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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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gesehen hat, dass er sie je getroffen oder von ihr
gehört hat. Ich habe Henry von ihr erzählt, denkt er. An einem dieser
Nachmittage, als ich meinem König ein wenig erzählt habe und er mir viel
erzählt hat: wie er vor Verlangen zittert, wenn er an Anne denkt, dass er es
mit anderen Frauen versucht habe, ein Notbehelf, um seiner Lust die Heftigkeit
zu nehmen, damit er als vernunftbegabtes Wesen denken und sprechen und handeln
könne, dass er bei den anderen jedoch versagt habe ... Ein merkwürdiges Geständnis,
aber der König glaubt, es rechtfertigt ihn, bestätigt die Richtigkeit seines
Strebens. Ich jage nur eine Hinde, sagt er, ein seltsames scheues Wild, und
sie führt mich von den Pfaden weg, die andere Männer ausgetreten haben, sie
führt mich ganz allein in die Tiefen des Waldes.
    »Jetzt«, sagt er, »legen wir dieses
Buch auf deinen Schreibtisch. Damit du einen Trost hast, wenn nichts zu
stimmen scheint.«
    Er setzt große Hoffnung auf
Thomas Avery. Es ist einfach, ein Kind zu beschäftigen, das die Spalten
zusammenzählt und dir unter die Nase hält, sie abzeichnen lässt und sie dann in
eine Truhe schließt. Aber welchen Sinn hat das? Die Seite eines
Rechnungsbuches ist zu deinem Nutzen da, genau wie ein Liebesgedicht. Sie ist
nicht dafür da, dass du nickst und sie dann abtust; sie ist da, um dein Herz
für das Mögliche zu öffnen. Sie ist wie die Heilige Schrift: sie ist da, damit
du darüber nachdenkst und deine Handlungen danach ausrichtest. Liebe deinen
Nachbarn. Beobachte den Markt. Steigere die Verbreitung von Güte. Bringe
nächstes Jahr bessere Zahlen ein.
     
    Das Datum für James Bainhams
Hinrichtung wird auf den 30. April festgesetzt. Er kann nicht zum König gehen,
es gibt nicht die kleinste Hoffnung auf eine Begnadigung. Vor langer Zeit wurde
Henry der Titel Verteidiger des Glaubens verliehen; es ist ihm daran gelegen
zu beweisen, dass er ihn immer noch verdient.
    Auf der Tribüne in Smithfield,
die für die Würdenträger errichtet wurde, trifft er den Botschafter von
Venedig, Carlo Capello. Sie verbeugen sich voreinander. »In welcher
Eigenschaft sind Sie hier, Cromwell? Als  Freund dieses Ketzers oder aufgrund
Ihrer Position? Und was ist eigentlich Ihre Position? Das weiß allein der
Teufel.«
    »Ich bin sicher, er wird es
Eurer Exzellenz mitteilen, wenn Sie das nächste Mal unter vier Augen sprechen.«
    Eingehüllt in sein Laken aus
Flammen ruft der sterbende Mann aus: »Möge der Herr Sir Thomas More vergeben.«
    Am 15. Mai unterzeichnen die
Bischöfe ein Dokument, mit dem sie sich dem König unterordnen. Ohne Genehmigung
des Königs werden sie keine neuen Kirchengesetze erlassen, und sie unterwerfen
alle bestehenden Gesetze einer Überprüfung durch eine Kommission, an der auch
Laien beteiligt sind - Abgeordnete des Parlaments und vom König ernannte
Personen. Sie werden keine Konvokation ohne Erlaubnis des Königs einberufen.
    Am nächsten Tag steht er auf
einer Galerie in Whitehall, von der man auf einen Innenhof hinabsieht, einen
Garten, wo der König wartet und der Herzog von Norfolk geschäftig auf und ab
läuft. Anne steht neben ihm auf der Galerie. Sie trägt ein dunkelrotes Kleid aus
gemustertem Damast, so schwer, dass ihre winzigen weißen Schultern darin zu
versinken scheinen. Manchmal - in einer Art Komplizenschaft mit der Fantasie -
stellt er sich vor, dass er seine Hand auf ihre Schulter legt und mit seinem
Daumen die ausgeprägte Höhlung zwischen ihrem Schlüsselbein und ihrem Hals
nachzeichnet, stellt sich vor, dass er mit dem Zeigefinger der schwellenden
Linie ihrer Brust über dem Mieder folgt wie ein Kind, das eine gedruckte Zeile
mit dem Finger liest.
    Sie wendet den Kopf und lächelt
leicht. »Da kommt er. Er trägt nicht die Kette des Lordkanzlers. Was kann er
damit gemacht haben?«
    Thomas More lässt die
Schultern hängen und sieht mutlos aus. Norfolk wirkt angespannt. »Mein Onkel
hat schon seit Monaten versucht, das hinzukriegen«, sagt Anne. »Aber der König
kann nicht dazu gebracht werden. Er will More nicht verlieren. Er möchte alle
zufriedenstellen. Sie wissen, wie es ist.«
    »Er kannte Thomas More schon,
als er jung war.«
    »Als  ich jung war, kannte ich
die Sünde.«
    Sie lächeln sich an. »Sehen
Sie«, sagt Anne. »Glauben Sie, es ist das Siegel von England, das er da in dem
Lederbeutel hat?«
    Als  Wolsey das Große Siegel
abgab, zögerte er den Prozess zwei Tage lang hinaus. Jetzt aber wartet der
König mit geöffneter Hand in dem

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