Mantel, Hilary
Kind
seinen Herrn zu umarmen. Die Nachricht von seiner Beförderung auf einen
Regierungsposten hat Antwerpen erreicht. Anscheinend ist Stephen Vaughan vor
Freude ziegelrot angelaufen und hat einen ganzen Becher Wein leergetrunken,
ohne ihn mit Wasser zu verdünnen.
Komm herein, sagt er, es sind
fünfzig Leute da, die mich sprechen wollen, aber sie können warten, komm und
erzähl mir, wie es meinen Freunden auf der anderen Seite des Meeres geht.
Thomas Avery beginnt sofort zu reden. Aber er bleibt im Türrahmen stehen. Er
sieht den Gobelin, das Geschenk des Königs. Seine Augen betrachten ihn forschend,
wenden sich dem Gesicht seines Herrn zu und kehren dann zu dem Gobelin zurück.
»Wer ist diese Dame?«
»Errätst du es nicht?« Er
lacht. »Es ist die Königin von Saba, die Salomon besucht. Der König hat mir
den Gobelin geschenkt. Er gehörte Mylord Kardinal. Er sah, dass ich ihn mochte.
Und er macht gerne Geschenke.«
»Er muss wertvoll sein.« Avery
betrachtet ihn ehrfürchtig, wie es sich für einen tüchtigen jungen Buchhalter
gehört.
»Sieh mal«, sagt er zu ihm,
»ich habe noch ein Geschenk; was hältst du davon? Vielleicht ist es die einzige
gute Sache, die ein Kloster je hervorgebracht hat. Bruder Luca Pacioli. Er hat
dreißig Jahre gebraucht, um es zu schreiben.«
Das Buch ist in
außergewöhnlich tiefem Grün mit goldenem Zierrand gebunden und hat vergoldete
Schnitte, sodass es im Licht leuchtet. Die Verschlüsse sind mit schwärzlichen,
glatten, durchsichtigen Granaten besetzt. »Ich wage es kaum zu öffnen«, sagt
der Junge.
»Bitte. Du wirst es mögen.«
Es ist die Summa de Arithmetica. Er öffnet es und findet einen
Holzschnitt des Autors, der ein Buch und zwei Kompasse vor sich hat. »Ist das
ein Neudruck?«
»Nicht direkt, aber meine
Freunde in Venedig haben sich gerade jetzt an mich erinnert. Ich war natürlich
ein Kind, als Luca es schrieb, und an dich war noch gar nicht zu denken.« Seine
Fingerspitzen berühren die Seite kaum. »Sieh mal, hier behandelt er die
Geometrie, siehst du die Zahlen? Hier ist die Stelle, wo er sagt, dass man
nicht zu Bett gehen soll, bevor die Bücher übereinstimmen.«
»Master Vaughan zitiert diese Maxime
ständig. Es hat dazu geführt, dass ich bis in die Morgendämmerung gearbeitet
habe.«
»Ich auch.« Viele Nächte in
vielen Städten. »Luca, musst du wissen, war ein armer Mann. Er stammte aus
Sansepulcro. Er war mit Künstlern befreundet und wurde ein großer Mathematiker
in Urbino; das ist eine kleine Stadt in den Bergen, wo Graf Federigo, der große condottiere, seine
Bibliothek mit mehr als tausend Büchern hatte. Er war Magister an der
Universität von Perugia, später von Mailand. Ich frage mich, warum ein solcher
Mann Mönch bleiben wollte, aber es hat natürlich Männer gegeben, die Agebra und
Geometrie betrieben haben und dafür als Zauberer in den Kerker geworfen
wurden, deshalb hat er vielleicht gedacht, die Kirche würde ihn beschützen ...
Ich habe in Venedig einen Vortrag von ihm gehört, es muss jetzt mehr als
zwanzig Jahre her sein, ich war in deinem Alter, denke ich. Er sprach über die
Proportion. Proportion in der Baukunst, in der Musik, in Gemälden, in der
Justiz, im Staat. Er erklärte, dass Rechte ausgewogen sein müssen, sprach über
die Macht eines Fürsten und seiner Untertanen, über den wohlhabenden Bürger,
der seine Bücher in Ordnung halten, seine Gebete verrichten und den Armen
dienen solle. Er erklärte, wie eine gedruckte Seite aussehen und wie ein Gesetz
beschaffen sein sollte. Oder was ein Gesicht zu einem schönen Gesicht macht.«
»Verrät er es mir in diesem
Buch?« Thomas Avery wirft noch einen Blick auf die Königin von Saba. »Ich
vermute, die Menschen, die diesen Gobelin gemacht haben, wussten es.«
»Wie geht es Jenneke?«
Der Junge blättert ehrfürchtig
die Seiten um. »Es ist ein schönes Buch. Ihre Freunde in Venedig müssen Sie
sehr bewundern.«
Als o gibt es Jenneke nicht
mehr, denkt er. Sie ist tot oder sie ist in einen anderen verliebt. »Manchmal«,
sagt er, »schicken mir meine Freunde aus Italien neue Gedichte, aber ich
glaube, in diesem Buch sind alle Gedichte enthalten ... Nicht dass eine Seite
mit Zahlen ein Gedicht ist, aber alles, was präzise ist, ist schön, alles, bei
dem alle Teile im Gleichgewicht sind, alles, was proportional ist... glaubst
du nicht auch?«
Die Macht der Königin von
Saba, den Blick des Jungen auf sich zu ziehen, verwundert ihn. Es ist
unmöglich, dass er Anselma
Weitere Kostenlose Bücher