Mantel, Hilary
engherzige,
störrische Volk, das an seinem Fleckchen Boden hängt. Nur eine überwältigende
Macht - eine Koalition, sagen wir, aus König Francois und dem Kaiser - wird sie
in Bewegung bringen. Wir können natürlich die Möglichkeit nicht ausschließen,
dass eine solche Koalition zustande kommt.
Als das Abendessen vorbei
ist, bringt er Chapuys zurück zu seinen Leuten, zu seinen großen kräftigen
Jungen, Leibwächtern, die herumstehen und sich auf Flämisch unterhalten, oft
über ihn. Chapuys weiß, dass er in den Niederlanden war; glaubt er, er versteht
die Sprache nicht? Oder ist es ein raffinierter doppelter Bluff?
Es hat Tage gegeben, nicht
allzu lange her, Tage nach Lizzies Tod, an denen er morgens aufgewacht war und,
bevor er mit jemandem gesprochen hatte, entscheiden musste, wer er war und
warum. Es hat Tage gegeben, an denen er aus Träumen von den Toten und von
seiner Suche nach ihnen erwacht war. An denen sein waches Ich an der Schwelle
zur Erlösung von seinen Träumen zitterte.
Aber jene Tage sind nicht
diese Tage.
Manchmal, wenn Chapuys damit
fertig ist, Walters Knochen auszugraben und ihm sein eigenes Leben fremd zu
machen, fühlt er sich fast genötigt, etwas zur Verteidigung seines Vaters,
seiner Kindheit zu sagen. Aber es hat keinen Sinn, sich zu rechtfertigen. Es
ist nicht gut, Erklärungen abzugeben. Es zeugt von Schwäche, Anekdoten zu
erzählen. Es ist klug, die Vergangenheit zu verbergen, selbst wenn es nichts zu
verbergen gibt. Die Macht eines Mannes liegt im Halbdunkel, in den nur halb
wahrgenommenen Bewegungen seiner Hand und in dem nicht entschlüsselten Ausdruck
seines Gesichts. Die Abwesenheit von Fakten ist es, die Menschen erschreckt:
die Lücke, die man öffnet und die sie mit ihren Ängsten, Fantasien, Wünschen
füllen.
Am 14. April 1532 ernennt ihn
der König zum Keeper of the Jewel House. Auf diesem Posten, hatte Henry Wyatt gesagt, ist man
in der Lage, sich einen Überblick über das Einkommen des Königs und seine
Ausgaben zu verschaffen.
Wie als Botschaft für jeden
vorbeikommenden Höfling ruft der König: »Warum nicht, sagt mir, warum soll ich
nicht den Sohn eines ehrlichen Schmieds anstellen?«
Er verkneift sich das Lächeln
bei dieser Beschreibung Walters; so viel schmeichelhafter als alles, wozu der
spanische Botschafter gelangt ist. Der König sagt: »Was Sie sind, dazu mache
ich Sie. Ich allein. Alles, was Sie sind, alles, was Sie haben, wird von mir
stammen.«
Der Gedanke bereitet Henry ein
Vergnügen, das man ihm kaum missgönnen kann. Er ist dieser Tage so
entgegenkommend, so freigebig und aufgeschlossen, dass man ihm das
gelegentliche Hervorheben seiner Position - sei es nun notwendig oder nicht -
verzeihen muss. Der Kardinal sagte immer, dass die Engländer einem König alles
vergeben, bis er versucht, sie zu besteuern. Er sagte auch immer: Die
Bezeichnung eines Amtes ist eigentlich gleichgültig. Wenn irgendein Kollege im
Kronrat mal nicht aufgepasst hat, musste er ziemlich bald feststellen, dass ich
inzwischen seine Arbeit übernommen hatte.
An einem Tag im April ist er
in einem Büro in Westminster, als Hugh Latimer vorbeikommt, frisch aus der Haft
in Lambeth Palace entlassen. »Nun?«, sagt Hugh. »Sie sollten mit dem Schreiben
aufhören und mir die Hand geben.«
Er steht hinter seinem
Schreibtisch auf und umarmt Latimer: staubiger schwarzer Mantel, Sehnen,
Knochen. »Sie haben Warham also eine schöne Rede gehalten?«
»Aus dem Stegreif, auf meine
Weise. Sie kam so frisch aus meinem Mund wie aus dem Mund eines Babys.
Vielleicht hat der alte Knabe inzwischen keinen Appetit mehr auf Verbrennungen,
weil sein eigenes Ende so nah ist. Er verschrumpelt wie eine Samenschote in
der Sonne, und wenn er sich bewegt, hört man die Knochen klappern. Wie dem auch
sei, ich kann es selbst nicht erklären, aber hier stehe ich vor Ihnen.«
»Wie hat er Sie behandelt?«
»Nackte Wände waren meine
Bibliothek. Zum Glück habe ich viele Texte im Kopf. Er hat mich mit einer
Warnung entlassen. Sagte, wenn ich nicht nach Feuer röche, so röche ich
zumindest nach der Bratpfanne. Das hat man mir schon mal gesagt. Es muss jetzt zehn
Jahre her sein, dass ich wegen Häresie vor der scharlachroten Bestie stand.« Er
lacht. »Aber Wolsey gab mir meine Predigerlizenz zurück. Und er gab mir den
Friedenskuss. Und ein Abendessen. Als o? Sind wir einer Königin nähergekommen,
die das Evangelium liebt?«
Ein Achselzucken. »Wir - sie -
sprechen mit den Franzosen. Ein
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