Mantel, Hilary
nachzugeben wie jedermann, der leben
will; aber es könnte zu spät sein. Es gefällt ihm, dass Mercy nicht sagt: ach,
die arme harmlose Seele. Dass sie nicht von Natur aus harmlos ist, wird klar,
als sie nach Lambeth Palace gebracht wird, um dort befragt zu werden. Man würde
denken, dass Lordkanzler Audley, dessen großartige Gestalt mit der Amtskette
behangen ist, ausreichen würde, um jedes Mädchen vom Lande zu beeindrucken. Man
füge noch den Erzbischof von Canterbury hinzu, um sich vorzustellen, dass eine
junge Nonne vielleicht ein wenig Ehrfurcht empfindet. Nicht die Spur. Die Magd
behandelt Cranmer voller Herablassung — als wäre er ein Novize im religiösen
Leben. Wenn er bei bestimmten Punkten zweifelt und sagt: »Woher wissen Sie
das?«, lächelt sie mitleidig und sagt: »Ein Engel hat es mir erzählt.«
Audley bringt zu ihrer zweiten
Sitzung Richard Riehe mit, damit er Notizen macht und auf Punkte hinweist, die
ihm auffallen. Er ist jetzt Sir Richard, zum Ritter geschlagen und zum Kronanwalt
befördert worden. In seinen Studententagen war er für seine scharfe,
verleumderische Zunge bekannt, für Respektlosigkeit gegenüber Älteren, fürs
Trinken und Spielen um hohe Einsätze. Aber wer würde schon gut dabei wegkommen,
wenn die Leute uns danach beurteilten, wie wir mit zwanzig waren? Es zeigt
sich, dass Riehe ein Talent für Gesetzesentwürfe hat, das nur von seinem
eigenen übertroffen wird. Unter seinem feinen blonden Haar hat er einen
verkniffenen Gesichtsausdruck vor lauter Konzentration und er spitzt den Mund;
die Jungen nennen ihn deswegen Sir Spitz. Wenn man ihn seine Papiere akkurat
auslegen sieht, würde man nie denken, dass er einmal die große Schande des
Inner Temple war. Um ihn aufzuziehen, sagt er ihm das mit gedämpfter Stimme,
während sie darauf warten, dass das Mädchen hereingebracht wird. Na ja, Master
Cromwell!, sagt Riehe, und wie steht es mit Ihnen und dieser Äbtissin in
Halifax?
Er wird sich hüten, es
abzustreiten: oder sonst eine der Geschichten, die der Kardinal über ihn
erzählt hat. »Ach das«, sagt er. »Das war nichts - das erwartet man in
Yorkshire.«
Er befürchtet, dass das
Mädchen das Ende des Wortwechsels mitbekommen hat, denn heute, als sie sich
auf den Stuhl setzt, den sie ihr hingestellt haben, bedenkt sie ihn mit einem
besonders durchdringenden Blick. Sie ordnet ihre Röcke, verschränkt die Arme
und wartet darauf, dass sie von ihnen unterhalten wird. Seine Nichte Alice
Wellyfed sitzt auf einem Hocker an der Tür: sie ist da für den Fall einer Ohnmacht
oder einer anderen Aufregung. Obwohl ein Blick auf die Magd genügt: Die Gefahr,
ohnmächtig zu werden, ist bei ihr auch nicht größer als bei Audley.
»Soll ich?«, sagt Riehe.
»Anfangen?«
»Ja, warum nicht?«, sagt
Audley. »Sie sind jung und munter.«
»Diese Prophezeiungen, die Sie
machen - ständig ändern Sie den Zeitpunkt der Katastrophe, die Sie voraussehen,
aber ich weiß genau, dass Sie gesagt haben, der König würde keinen Monat mehr
regieren, nachdem er Lady Anne geheiratet hat. Nun, Monate sind vergangen, Lady
Anne ist gekrönte Königin und hat dem König eine gesunde Tochter geschenkt. Und
was sagen Sie jetzt?«
»Ich sage, dass er in den
Augen der Welt König zu sein scheint. Aber in den Augen Gottes«, sie zuckt mit
den Achseln, »nicht mehr. Er ist genauso wenig der richtige König wie er«, sie
nickt in Cranmers Richtung, »ein richtiger Erzbischof ist.«
Riehe lässt sich nicht
ablenken. »Soll das heißen, es wäre gerechtfertigt, eine Rebellion gegen ihn
anzuzetteln? Ihn zu entthronen? Ihn zu töten? Jemand anders an seine Stelle zu
setzen?«
»Nun, was denken Sie?«
»Und unter den Thronanwärtern
ist Ihre Wahl auf die Familie Courtenay gefallen, nicht die Poles. Henry,
Marquis von Exeter. Nicht Henry, Lord Montague.«
»Oder«, sagt er verständnisvoll,
»bringen Sie sie vielleicht durcheinander?«
»Natürlich nicht.« Sie errötet. »Ich habe beide Herren
getroffen.« Riehe macht sich eine Notiz.
Audley sagt: »Courtenay, das
ist Lord Exeter, er stammt von einer Tochter König Edwards ab. Lord Montague
stammt von König Edwards Bruder, dem Herzog von Clarence ab. Wie bewerten Sie
ihre Ansprüche? Wenn wir schon von richtigen Königen und falschen Königen
sprechen, sollten wir erwähnen, dass einige Leute behaupten, Edward war ein
Bastard, den seine Mutter von einem Bogenschützen empfangen hat. Ich frage
mich, ob Sie Licht in die Sache bringen können.«
»Warum
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