Mantelkinder
Wort lange an.
„Du musst doch zu finden sein, du Hurensohn!“, knurrte er gerade, als ein gehöriger Aufruhr im Vorzimmer ihn aufhorchen ließ. Der energische Ton der Nixe gegen eine herrische dunkle Stimme, die ihm bekannt vorkam.
Er sprang aus dem Sessel und im selben Moment wurde die Tür aufgerissen. Eine weißhaarige Frau mit Krückstock und eine wütend funkelnde Nixe standen im Rahmen.
Grete Horn und die beste Mitarbeiterin von allen redeten gleichzeitig.
„Diese Person will mich nicht …“
„Sie kann doch nicht so einfach …“
„Ruhe!“, herrschte Chris die beiden an und versuchte, ernst zu bleiben. Er winkte die alte Dame herein, zwinkerte der Nixe zu und formte lautlos das Wort „Kaffee“.
Kopfschüttelnd trat die Nixe den Rückzug an.
„Was geht hier vor sich?“, polterte Grete los. „Da werden reihenweise Kinder umgebracht und dieses junge Ding will mich auch noch warten lassen!“
„Sie kommen unangemeldet“, warf Chris beschwichtigend ein.
„Ich komme, weil ich mir das nicht mehr mit ansehen kann!“ Grete stapfte durch das Zimmer. Mit jedem Schritt pochte ihr Stock dumpf auf den Boden. Sie schälte sich aus ihrem beigefarbenen Anorak, warf ihn über eine Stuhllehne in der Besucherecke und ließ sich in einen Sessel sinken. „Es geht doch nicht, dass dieser Verrückte weiter frei herumläuft!“
Chris setzte sich ihr gegenüber, verschlang die Beine ineinander und legte eine volle Packung Marlboro auf den Tisch. „Darf ich Ihnen eine Zigarette aufdrängen?“
Grete Horn fand augenblicklich ihre gute Laune wieder und lächelte versöhnlich. „Auch zwei. Also: Was wissen Sie?“
Er ging zum Computer und druckte seine Aufzeichnungen aus. Während sie aufmerksam las und dabei tief den Rauch inhalierte, kam die Nixe mit Geschirr und Kanne. Sie schien sich wieder beruhigt zu haben und hatte sogar an eine Schale mit Lebkuchen gedacht. Aber sie warf der qualmenden Alten einen misstrauischen Blick zu, ehe sie das Zimmer wieder verließ.
„Wieso ist die postmortale Liegezeit bei Sonja so hoch?“, fragte Grete und tippte mit dem Zeigefinger auf den Ausdruck. „Freitagabend ermordet, erst dienstags gefunden.“
„Das ganze Wochenende herrschte Sauwetter, da war kaum einer unterwegs. Außerdem ist die Stelle vom Weg nicht einsehbar“, erklärte Chris, goss Kaffee ein und schob ihr eine Tasse zu.
„Gut! Erzählen Sie aus Ihrer Sicht.“
Wie schon beim ersten Mal, versuchte er, so detailliert und präzise alle ihm bekannten Fakten zu schildern. Natürlich gab es Lücken in seinem Wissen. Susanne war zwar außergewöhnlich mitteilsam, aber er hatte ja noch nie einen Blick in die Ermittlungsakten von Annika oder Sonja werfen dürfen. Trotzdem glaubte er sich gut informiert, weil Susanne ihm mit Sicherheit alle ermittlungsrelevanten Einzelheiten erzählt hatte.
Grete hörte mit geschlossenen Augen zu und paffte vor sich hin. Langsam füllte sich der Raum mit blauem Dunst.
„Beinahe alle Personen, die Claudia nahe standen, waren nachweislich auf dem Friedhof“, kam Chris schließlich zum Ende. „Sie haben also ein Alibi für den Tag, an dem Annika verschwunden ist. Die Polizei hat daraufhin den Kreis erweitert und überprüft nun alle Männer, die auch nur im Entferntesten mal mit Claudia zu tun hatten. Bisher ohne Ergebnis.“
Lange Zeit herrschte tiefes Schweigen im Zimmer. Grete hielt die Augen immer noch geschlossen. Er fürchtete schon, sie wäre eingeschlafen, als sich die alte Frau plötzlich aufrichtete und ihn mit ihren stahlblauen Augen ansah.
„Ihre Theorie über das Motiv ist gut, sehr gut sogar“, sagte sie anerkennend. „Eine schwere Persönlichkeitsstörung, die sich in der abgöttischen Liebe zu Claudia äußert und schon sind wir da! Die Kerze als Zeichen für den lieben Gott — auch da ist was dran. Allerdings haben Sie bisher einen gravierenden Aspekt nicht beachtet.“
Chris spürte kribbelnde Nervosität in sich aufsteigen, als Grete mit ihrer knotigen Hand die Kaffeetasse nahm, ehe sie weitersprach. „Es spricht alles dafür, dass Annika und Sonja freiwillig mit ihm gegangen sind, ihn also kannten. So weit, so gut. Der Täter liebt Claudia über alle Maßen, auch in Ordnung. Aber das heißt nicht unbedingt, dass er ihr nahestand. Es könnte sogar sein, dass er ihr nie begegnet ist.“
„Was?“
„Sehen Sie, Kinder wecken oft sehr tiefe Emotionen in uns, die wir rational nicht erklären können. Vor allem, wenn es sich um solche
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