Mantelkinder
die Kiesel blitzten. „Die Kinder werden gekämmt und zugedeckt. Der Seidenschal, mit dem sie gefesselt werden. Welcher Mann betäubt ein Kind, damit es möglichst schonend in den Himmel kommt? Und welcher Mann tötet ein Kind auf diese Weise, ohne es zu missbrauchen?“
„Mein Gott, Karin!“ Fassungslos schob Susanne ihren Teller zurück.
Donnerstag, 6. Dezember
„Arschlöcher!“ Mit Schwung nahm Chris die Beine vom Schreibtisch und warf seine geliebte Zeitung in den Papierkorb. Jetzt gingen auch noch die seriösen Blätter gegen die Polizei vor. Der heutige Aufmacher im Lokalteil lautete sogar „Eine Stadt in Angst“. Vor allem Marlene Breitner geriet in die Schusslinie. Man vermutete Ermittlungspannen und mangelnde Führungsqualitäten. Warum wohl sonst kam die Polizei keinen Schritt weiter?
Sie kamen tatsächlich keinen Schritt weiter, dachte Chris bitter. Aber das lag weder an der leitenden Staatsanwältin, noch an vermeintlich schlampiger Arbeit, sondern daran, dass die Beamten nicht den geringsten Anhaltspunkt hatten. Laut Gerichtsmedizin war Sonja Freitagabend gestorben. Durch den Dauerregen und die lange Zeit, die sie draußen gelegen hatte, waren so gut wie alle Spuren unbrauchbar. Neben der Leiche war einzig und allein ein eingewickeltes, aufgeweichtes Bonbon mit Melisseextrakt gefunden worden. Das Labor konnte aber beim besten Willen nicht bestimmen, wie lange es da gelegen hatte. Es konnte einem spielenden Kind oder einem Spaziergänger ebenso gut aus der Tasche gefallen sein, wie dem Mörder.
So blieb der Polizei nur die weitere Suche nach dem Menschen, der eine Verbindung zu allen drei Kindern gehabt hatte. Aber wieder lief ihnen die Zeit davon. Es waren noch sieben Tage, mickrige sieben Tage, bis es eine weitere Vermisstenmeldung geben würde.
Chris schauderte kurz bei dem Gedanken daran. Dann drehte er den Bildschirm zu sich und rief die Datei auf, in der er alle Parallelen und Unterschiede zwischen Claudia und Annika gespeichert hatte. Gestern erst war eine dritte Rubrik mit Sonjas Daten hinzugekommen.
Annikas und Sonjas Todesumstände waren beinahe identisch. Jede Menge Nitrazepam im Blut, Machart und Material des Seidenschals waren identisch, Umhang und Mantel stammten aus dem gleichen Geschäft. Aber der Käufer war natürlich in beiden Fällen nicht mehr zu ermitteln.
Chris legte eine weitere Tabelle an und trug dort alle Erkenntnisse ein, die sie bisher über den Täter gesammelt hatten. Er kaufte bei Kunzeler ein, benutzte edle Kerzen, „liebte“ seine Opfer, und er liebte Köln und Wasser. Und Claudia.
Er rief die PDF auf, die er am Morgen von Susanne bekommen hatte und kopierte die wichtigsten Stichworte in seine Datei, obwohl er dabei mehrmals den Kopf schüttelte. Er hielt nicht viel von Täterprofilen, und was die Fachleute vom LKA hier verbrochen hatten, bestätigte seine Meinung. Der Bericht war gespickt mit Ausdrücken wie „gemütsarm und labil“, „egoistisch-egozentrische Grundeinstellung“, „defizitäre Familienverhältnisse“, „nimmt sich alles zu Herzen“, „innerlich vereinsamt“, „dissoziales Verhalten“. Als tatauslösend wurde die „Aktualisierung eines bereitliegenden und dauerhaften Konfliktpotentials“ genannt. Um auf all das zu kommen, brauchte man wirklich keine Spezialausbildung. Und die Empfehlung, den Täter „im Umfeld von Claudia Seibold“ zu suchen, war beinahe ein schlechter Witz. Danach allerdings wurde eine interessante These aufgestellt: Die Profiler gingen davon aus, dass der Mörder alleinstehend war und wahrscheinlich über ein eigenes Haus verfügte. Schließlich musste er sein Opfer den ganzen Tag über unauffällig betreuen. Das hieß natürlich auch, dass er einen Beruf ausübte, der ihm freitags Zeit ließ. Aus welchen Gründen aber der Täter zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahre alt sein sollte, war Chris schleierhaft.
In einer zweiten PDF hatte Susanne ihm auch die neuesten Berechnungen über den Apfel geschickt. Das Ergebnis würde für Karin niederschmetternd sein: Nach einer erweiterten Analyse war zu 98,72 Prozent sicher, dass der Apfel von einem Mann gegessen worden war. Und nicht nur das: Mit einem komplizierten Verfahren hatte das LKA den Zustand des Apfels mit dem Zustand der Leiche verglichen und waren zu dem Schluss gekommen, dass der Apfel mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich zum Zeitpunkt von Annikas Tod gegessen worden war.
Chris tippte MÄNNLICH! in seine Tabelle und sah das
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