Mantelkinder
nach an und zog die Augenbrauen zusammen. Eine steile Falte wurde über der Nasenwurzel sichtbar. „Wir müssen darüber reden! Ich würde also vorschlagen, ihr ladet mich zum Essen ein. Ihr wisst ja …“
„… ohne Essen kann ich nicht denken“, vollendeten Karin und Chris gleichzeitig ihren Standardspruch und blickten gottergeben in den Abendhimmel.
Mario wies ihnen den ruhigsten Tisch zu, den es in seinem Lokal gab. Der kleine, dickliche Wirt interessierte sich nie dafür, was sie oft bei ihm zu besprechen hatten, ob zu zweit oder zu dritt. Aber er wusste immer einzuschätzen, wann sie ungestört sein wollten.
Als sie aus der reichhaltigen Karte gewählt hatten, zog Susanne geschäftsmäßig ihren Notizblock aus der Tasche und drehte die Mine des Kugelschreibers aus seiner Hülle. Mit einer beinahe liebevollen Bewegung klappte sie die Bügel ihrer Lesebrille auseinander und setzte sie sich auf die Nasenspitze.
„Wie bezeichnet ihr Fotografen das?“, begann sie. „Die absolute Perspektive?“
„Langsam“, wehrte Karin ab. „Es kommt ja immer darauf an, was ich ausdrücken will. Ein idyllisches Inselchen im Vordergrund und eine verfallene Holzbude dahinter sind mit Sicherheit spannender, als nur Bäume, Wasser, Schwanennest. — Wenn ich denn Spannung will.“
„Das heißt, unserem Täter geht es nicht um Spannung, sondern um Schönheit.“
„Schönheit, Harmonie“, bestätigte Karin. „Wenn ich einen entsprechenden Auftrag hätte, und mir nur diese beiden Areale zur Verfügung stünden, würde ich genau die Punkte auswählen, die der Mörder ausgewählt hat.“
„Heißt das, wir suchen einen Fotografen?“
„Vielleicht. Auf jeden Fall ist es jemand, der einen Blick für solche Dinge hat. Und jemand, der sich in Köln auskennt. Schließlich hat er die beiden Orte ausgewählt.“
„Und wenn es doch Zufall ist?“
Karin schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Überleg mal. In beiden Fällen hat er die betäubten Kinder von der Straße aus ziemlich weit geschleppt. Aus welchem Grund? Angst vor Entdeckung bestimmt nicht. Im Winter ist um diese Uhrzeit kein Mensch mehr da unterwegs. Er hätte die Kinder auch gleich nur wenig abseits der Fahrbahn an einen Baum binden können und wäre auch nicht aufgefallen. — Chris! Bist du noch da?“
Er hob verwirrt den Kopf, weit weg mit seinen Gedanken.
„Areale“, sagte er und riss sich zusammen. „Du hast gesagt: Wenn du nur diese Areale zur Verfügung hättest. Es gibt aber sicher noch tausend Orte in Köln, die wunderschön sind.“
Schwungvoll servierte Mario drei Salatteller, die sie nicht bestellt hatten. „Für nett Gäst, gehen auf kleine Mario Rekenung, weil isse Advent“, verkündete er grinsend.
Susanne fiel gleich über den Salat her, pickte die dicken Thunfischstreifen heraus und verschlang sie mit Genuss.
Erst nach einer Weile ging sie auf die letzte Bemerkung von Chris ein. „Ich verstehe, was du meinst. Von vielen schönen Stellen wählt er ausgerechnet diese beiden. Was also verbindet die Orte?“
„Wasser“, antwortete Chris spontan.
„Wasser und die Tatsache, dass an beiden Stellen Schönheit und Grauen sehr eng beieinanderliegen. Claudia ist grauenvoll an einem grauenvollen Ort gestorben. Annika und Sonja sterben schön an einem schönen Ort.“
„Und zwanzig Meter weiter lauert schon wieder das Grauen“, vollendete die Polizistin Karins Gedankengang. „Wenn auch nur in Form einer Brücke oder einer Baracke. Du siehst die Ortswahl also auch als Zeichen?“
„So wie die Kerze, ja“, bestätigte Karin, während sie Eierscheiben an den Tellerrand legte. Sie mochte keine hartgekochten Eier. „Es passt zum sonstigen Verhalten. So liebevoll er sie behandelt, so liebevoll wählt er die Stelle aus.“
„Und so liebevoll tötet er sie. Verflucht! Und ich dachte, Ballmann wäre der verquerste Typ, der mir je begegnet ist. Aber der hier schlägt ihn noch um Längen.“ Susanne legte Messer und Gabel zur Seite und rieb sich das Gesicht, bis die Haut rot wurde. „Ich fasse zusammen: Wir suchen einen schöngeistigen Kölnkenner mit einer Affinität zu Wasser.“
„Oder eine Frau“, sagte Karin betont ruhig.
„Hör mal …“
„Ich weiß, ich weiß. Dieser verdammte Apfel und der Rucksack! Aber habt ihr einen einzigen Beweis, dass da wirklich die DNA des Täters dran ist? Siehst du denn nicht, dass das ganze Verhalten, diese Arrangements, typisch weibliche Züge haben?“ Sie redete sich jetzt fast in Rage und
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