Mantelkinder
sinken. „Besetzt!“, verkündete er.
„Nimm das Handy von Chris!“
„Nummer?“, knurrte Hellwein.
Susanne sah ihn verdattert an. Dann schloss sie die Augen. „Scheiße!“
„Was?“
„Die steht hier drin.“ Sie hob das Gerät mit dem leeren Akku hoch.
„Na, toll! Und jetzt? Das volle Programm? Sondereinheit nach Bayenthal?“
„Red kein Blech, Heinz. Glaubst du, sie ist in ihrer Wohnung? Denk an die Tante … Tante … Wir knöpfen uns die Tante vor.“
In rasanter Fahrt kam ein dunkelblauer Golf um die Ecke geschossen und bremste vor ihnen ab. Im nassen Asphalt spiegelte sich das grelle Licht der Scheinwerfer. Erst jetzt fiel Susanne auf, dass sie ohne Schirm im Regen standen.
Chris stieg auf der Beifahrerseite aus und Karin ließ die Seitenscheibe herunter. Hellweins Handy klingelte.
„Hildegard Albertini?“, fragte Chris kurz.
Susanne nickte nur und sah Karin lange an.
„Und?“
„Und? Ihr beide habt euren Teil getan und solltet nach Hause fahren. Wir unterhalten uns später.“
Chris wollte protestieren, aber Karin ließ den Arm lässig aus dem Fenster baumeln und grinste. „Kannst ja mal versuchen, mich abzuhängen, Frau Hauptkommissarin.“
Mit etwas, das sich anhörte wie „stures Pack“, stieg Susanne auf der Beifahrerseite ein und überließ Hellwein das Steuer. Der steckte gerade mürrisch sein Handy in die Tasche seiner roten Daunenjacke.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, ja. Die Leitstelle. Ich soll Doktor Sprenger zurückrufen.“
Sie waren beinahe schon bei Albertini, als Susanne den Kopf schüttelte. „Ich versteh es nicht. Ich versteh es einfach nicht!“
„Was?“
„Sie war ohne Fehlzeiten im Dienst.“
„Woher weißt du das?“
„Ich hab der Hansen gesagt, sie soll die Alibis der Frauen abklopfen.“
Hellwein sah sie bestürzt an und verriss beinahe das Lenkrad. „Du hattest eine Frau im Kopf?“
„Ich nicht.“ Susanne stöhnte auf. „Aber Karin.“
Sie sah in den Seitenspiegel. Der blaue Golf war dicht hinter ihnen.
Susannes Instruktionen waren eindeutig. „Hellwein und ich reden mit der Tante, klar?“, sagte sie streng. „Ihr gebt keinen Mucks von euch. Das ist immer noch eine polizeiliche Ermittlung!“
Die Tante war erst verschreckt, dann empört, weil man ihrer Nichte ein Verbrechen unterstellte und schließlich entsetzt, als ihr klar wurde, was Hildegard getan hatte.
Das Esszimmer, in das sie die vier führte, war vollgestellt mit schweren dunklen Möbeln. Ein mit Ornamenten verziertes Sideboard nahm beinahe die ganze Stirnwand ein. Darauf standen Engelsfiguren dicht an dicht. Aus Gips, Ton, Porzellan, Stoff. Kniend, stehend, trompetend, singend, betend … Chris fand das so scheußlich, dass er kaum den Blick von den Engeln wenden konnte, während die alte Frau erzählte.
Ja, Hildegard war unehelich geboren und litt entsetzlich darunter. Ihr sehnlichster Wunsch war, dass ihre Mutter heiratete und sie „unter den Mantel nahm“, seit sie im Geschichtsunterricht von dem alten Gesetz gehört hatte. Als die Mitschüler aber anfingen, ihr „Mantelkind“ hinterherzurufen, war sie zutiefst verletzt.
„Ihre Kindheit war sehr bedrückend“, berichtete die Tante weiter. „Ihre Mutter war kühl und abweisend, weil sie das Kind im Grunde nie gewollt hat. Es war wie eine Kette ohne Ende. Je mehr meine Schwester sie zurückwies, desto stärker suchte Hildegard Liebe und Geborgenheit. Ich nehme an, deshalb ist sie auch Lehrerin geworden. Sie wollte den Kindern wohl das geben, was ihr selbst so gefehlt hat.“
„Wie lange leben Sie schon zusammen?“, fragte Hellwein behutsam.
„Seit ihrem ersten Zusammenbruch“, antwortete die Alte schmallippig. „Vor fast zwanzig Jahren.“
„Zusammenbruch?“, echote Susanne alarmiert.
„Sie hatte mehrere depressive Schübe, ja, war einige Male in der Klinik deswegen. Ich nehme an, auch das liegt in ihrer Kindheit begründet. Sie hatte eine krankhafte Angst vor dem Alleinsein. Hinzu kam, dass sie nichts als Zuneigung suchte, aber immer, wenn ihr die jemand geben wollte, wies sie ihn brüsk zurück. Auch mich.“
„Das heißt?“, hakte Susanne nach.
„Das heißt, dass wir zwar diese Wohnung miteinander teilen, unser Verhältnis aber eine reine Zweckgemeinschaft ist. Hildegard muss nicht allein sein und ich bin versorgt. Ansonsten geht jeder seine eigenen Wege.“
„Sie unternehmen also nichts gemeinsam? Und Sie wissen nicht, was Ihre Nichte in ihrer Freizeit macht oder welche Freunde sie
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