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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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schienen immer noch unter Schock zu stehen, und manch einer bekam rote Augen während er mit den Polizisten redete. Sabine Koller, eine blonde Mitfünfzigerin mit herben Gesichtszügen und einem so durchtrainierten Körper, wie ihn nur Sportlehrer aus Leidenschaft haben, brachte es schließlich auf den Punkt: „Wissen Sie, man liest immer in der Zeitung davon, man empört sich, man ist betroffen. Aber man denkt, den eigenen Kindern kann das nicht passieren. Und wenn es doch passiert…“
    Sie brach ab und begann heftig zu weinen. Susanne ließ ihr Zeit sich zu sammeln und warf Hellwein, der ungeduldig mit dem Stift auf sein Notizbuch klopfte, einen warnenden Blick zu. Er mochte mit Kindern umgehen können, aber eine schluchzende Frau schien ihn nervös zu machen.
    „Die eigenen Kinder“, murmelte Susanne, als sie wieder im Auto saßen. „Sie sagte: `Die eigenen Kinder´. Hättest du gedacht, dass man sich so mit seinen Schülern identifiziert?“
    Hellwein zuckte die Achseln. „Wenn man den Job mit Leib und Seele macht — wieso nicht? Ist doch überall so. Wenn bei uns einem Polizisten was passiert, sind wir doch auch so aus dem Häuschen, als hätte man unseren großen Bruder über den Jordan geschickt.“
    Zu spät bemerkte er, welches Minenfeld er betreten hatte. Peter Braun, im Dienst erschossen, und seine Witwe saß hier neben ihm! Die Frau, die heute noch aus dem Zimmer ging, wenn über verstorbene Kollegen gesprochen wurde. Manchmal sagte sie dann stundenlang keinen Ton mehr. Und Hellwein war in diesen Zeiten immer unsicher, wie er mit ihr umgehen sollte. Reden oder in Ruhe lassen? Da Susanne aber nie ein Wort über ihre Ehe, ihren Mann und die erste Zeit nach seinem Tod verlor, hatte er sich bisher fürs Schweigen entschieden.
    „Hör mal, ich meine …“
    „Was meinst du?“ Susanne starrte durch die Seitenscheibe auf den verdreckten Eingang einer Imbissbude. Der Wind hatte Blätter und Pappschalen mit Pommesresten in eine Ecke geweht. Der Bürgersteig war übersät mit bunten Plastikgäbelchen, und unter dem schmutzigen Schaufenster lag ein frischer, glänzender Hundehaufen.
    „Es … tut mir leid. Ich wollte dich nicht …“
    „Was wolltest du nicht? Mich dran erinnern?“ Sie fummelte ihre Zigaretten aus der Jackentasche. „Man muss mich nicht daran erinnern, Heinz. Ich weiß es! Immer! Und nun fahr zu!“
    Hellwein zögerte. Jetzt war die Gelegenheit, endlich zu sagen: „Erzähl mir von ihm“. Ein Satz, den er seit fünf Jahren mit sich herumtrug.
    „Zum Teufel! Fährst du jetzt endlich zu dieser Albertini!?“, blaffte sie und kramte im Handschuhfach nach einem Feuerzeug. Er sah, dass ihre Hand dabei leicht zitterte.
    Sie schwieg demonstrativ während der kurzen Fahrt, zog stattdessen hektisch an ihrer Zigarette. Versuchte zum zweiten Mal innerhalb von sechsunddreißig Stunden Ordnung zu schaffen in ihrem Inneren. Gerade mal vier Tage leitete sie die SOKO Claudia und schon lagen ihre Nerven blank. Und sie wollte, verdammt noch mal, nicht über Peter nachdenken. Eigentlich nicht einmal über Claudia.
     
    Hildegard Albertini, Claudias Klassenlehrerin, und der Schuldirektor hatten am Montag der Klasse 1b mitgeteilt, dass ihre Mitschülerin tot war. Wie auch immer man das Erstklässlern beibrachte. Danach hatte Albertini einen leichten Kollaps erlitten, und auf Bitten ihres Hausarztes war die Vernehmung bis heute verschoben worden.
    Nach der Reaktion von Sabine Koller wunderte Susanne der Zusammenbruch nicht. In einer Grundschule war die Klassenlehrerin noch die, die ungefähr achtzig Prozent des Unterrichts mit „ihrer“ Klasse verbrachte. Was an weiterführenden Schulen in ein Dutzend Nebenfächer und beinahe ebenso viele Lehrer zerfaserte, konzentrierte sich die ersten vier Jahre auf eine einzelne Person, die ihre Kinder sehr gut kannte. Eines davon auf diese Weise zu verlieren, musste ein harter Schlag sein.
    Die Begegnung mit Hildegard Albertini war in vielerlei Hinsicht schockierend und beklemmend. Sie lebte in Marienburg, einem der besten Stadtviertel Kölns. Der gediegen wirkende Altbau schien nur von zwei Parteien bewohnt zu sein. Die Messingschilder unter den Klingeln wiesen einen Dr. Gerd Stromer aus und auf dem anderen waren H. Albertini und B. Albertini eingraviert.
    Die Frau, die ihnen öffnete, hatte die Achtzig mit Sicherheit schon überschritten. Eine perfekte Dauerwelle hielt ihr schlohweißes Haar in Form. Sie stand sehr aufrecht da, und die Strenge in ihrem Gesicht

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