Mantelkinder
wurde durch die vielen kleinen Runzeln nur wenig abgemildert.
Sie musterte Hellwein und Susanne aus wässrigen blauen Augen. Die beiden fremden Menschen vor ihrer Tür machten sie anscheinend weder misstrauisch noch ängstlich. Ihr Blick war einfach nur kritisch. Besonders Susanne schien ihr Missfallen zu erregen. Als sie mit ihrer Prüfung bei deren ungeputzten und ramponierten Schuhen angekommen war, zog sie die Augenbrauen hoch. Mehr nicht, aber das genügte völlig.
Auch Susanne bildete sich in Sekundenschnelle ein Urteil: Geld, Großbürgertum, Klosterschule. Die alte Frau hatte mit Sicherheit noch nie ohne Handtasche und die passenden Handschuhe das Haus verlassen. Und Susanne hätte gewettet, dass sie unverheiratet war.
Sie überließ es Hellwein, den Dienstausweis zu zücken und sie beide vorzustellen. Die Alte warf nur einen kurzen Blick auf den Ausweis und sagte leicht vorwurfsvoll: „Meine Nichte hat Sie schon erwartet.“
Endlich wurden sie in die Wohnung gebeten. Aus dem „Nichte“ und den gleichlautenden Namen schloss Susanne routinemäßig, dass die alte Dame die Schwester von Hildegard Albertinis Vater war und tatsächlich unverheiratet. Demnach musste auch die Lehrerin selbst ledig sein. Den zweiten innerlichen Triumph hatte sie, als sie eintraten und ihr Blick als erstes auf die Garderobe und die Anrichte darunter fiel. Neben einer weißen Krokotasche lagen weiße Netzhandschuhe!
Albertini führte sie durch einen langen und dunklen Flur, von dem sechs schwere Eichentüren abgingen. Hinter der letzten Tür verbarg sich eine Art Salon. Susanne und Hellwein wurden gebeten, dort zu warten.
Susanne zog unwillkürlich die Schultern hoch, als die Tante sie alleingelassen hatte. Und während sie sich umsah, wanderten ihre Schultern noch höher. Antik hin oder her, hochglanzpolierte Mahagonimöbel waren ihr seit der Kindheit ein Gräuel. Das erinnerte sie immer an Verwandte ihres Vaters, die ähnlich eingerichtet waren und fast einen Herzinfarkt bekamen, wenn Klein-Susanne es wagte, Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen.
Hier in diesem Salon waren auch noch überall gehäkelte weiße Spitzendeckchen verteilt. Auf dem Sideboard, den beiden Beistelltischchen, den Sessellehnen. Die laut tickende Standuhr und das leicht vergilbte Ölbild über dem Sofa, das in einem kitschigen Goldrahmen steckte, trugen auch nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden bei.
„Ist das jetzt ein Museum oder ein Mausoleum?“, grinste Hellwein und schüttelte seinen schweren Körper.
Susanne grinste zurück. „Du bist und bleibst ein Proletarier. — Lass uns lieber mal Fotos gucken!“
Sie steuerte auf die Stirnwand des Salons zu. Auf der teuer aussehenden Stofftapete hingen großformatige Bilder, die so gar nicht zu dem sonstigen Ambiente passten. Etwa ein Drittel der Wand war bedeckt mit Aufnahmen einer Segelyacht. Als Susanne sich vorbeugte, um den Bootsnamen zu entziffern, knarzten die Bodendielen unter ihren Füßen. Mit Hilfe ihrer Lesebrille wurde aus dem verschwommenen dunklen Balken am Bug des Schiffs die „Schneekönigin“, die aus allen erdenklichen Perspektiven fotografiert worden war. Auf vielen Bildern war eine Frau an Bord, die frappierende Ähnlichkeit mit der Tante hatte. Mal stand sie am Mastbaum, mal saß sie vor dem Steuerrad oder lehnte lässig an der Reling.
Die anderen Fotos, manche schwarz-weiß, zeigten Gruppen von zwanzig oder dreißig Kindern in immer gleicher Formation: Halbkreis, erste Reihe hockend, zweite Reihe stehend. Darunter war jeweils in einer feinen, gestochen scharfen Handschrift die Jahreszahl, die Klasse und die Schule notiert.
Demnach hatte Hildegard Albertini an mindestens drei Schulen in Köln unterrichtet. Das älteste Bild war von 1975: die Klasse 1a der Grundschule Lorbergstraße. Susanne rechnete schnell nach und kam zu dem Schluss, dass Albertini kurz vor der Pensionierung stehen musste.
„Meine Kinder!“, sagte plötzlich eine warme, dunkle Stimme hinter ihnen, und Susanne zuckte unwillkürlich zusammen. Schon die zweite Lehrerin heute, die von „ihren“ Kindern sprach.
Sie sah ihrer Tante sehr ähnlich. Die gleichen wässrigen Augen, die Gesichtszüge jünger, aber nicht weniger streng. Im Gegensatz zu der alten Frau war Hildegard Albertini jedoch ausgesprochen groß. Trotzdem hatten ihre Bewegungen die Geschmeidigkeit einer Katze. Ihr Händedruck dagegen erinnerte an einen Schraubstock. Sie trug einen dunkelblauen Rock, eine hoch geschlossene Bluse und eine weiße
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