Mantelkinder
ein Kind, vergehen sich an ihm und Punkt. Kommt es dennoch zur Tötung des Opfers, ist das oft eine Art Affekthandlung. Das Kind schreit, wehrt sich, der Täter hat plötzlich Angst vor Verrat und tötet mit dem, was gerade in der Nähe ist: Der Schraubenschlüssel in der Werkstatt, der Ast im Wald, seine Hände.
Unser Mann hingegen ist überaus gezielt vorgegangen. Er hatte Klebeband und Plastikschnur, um sie zu knebeln und zu fesseln, er hatte eine Kerze, und er hatte ein Drahtseil, um sie zu erdrosseln. Auf all dem haben wir keinen einzigen Fingerabdruck gefunden, und jede einzelne seiner Fußspuren im Boden der Senke ist unkenntlich gemacht. Außer dem genetischen Material haben wir nichts, was auf den Täter schließen lässt. Keinen verlorenen Knopf, keine Zigarettenkippe. Es ist also davon auszugehen, dass er den Tod des Kindes nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern von vornherein geplant hat.“
In der Pause, die jetzt entstand, versuchte Chris, das Gehörte zu verarbeiten. Er verdrängte die Bilder, die sich wieder in seinem Kopf breitmachten und dachte einen Schritt weiter als Susanne: Wenn alles so perfekt geplant gewesen war, konnte auch der Tatort kein Zufall sein. So viel stand für ihn fest. Aber darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Im Moment beschäftigte ihn etwas anderes.
Er drückte die Zigarette in dem übervollen Aschenbecher aus und sagte: „Eins verstehe ich überhaupt nicht. Claudia wird in der Zeitung als hochintelligent und selbstbewusst beschrieben. Sie kommt aus einer behütenden Familie, die ihr mit Sicherheit Verhaltensmaßregeln gegeben haben. Wieso geht sie trotzdem mit einem Fremden mit?“
„Genau das ist der Punkt, Chris. Wir vermuten, dass es kein Fremder war, dass sie ihren Mörder gekannt hat. Es ist aber leider so, dass für eine Sechsjährige auch der Verkäufer im Supermarkt kein Fremder mehr ist, wenn er sie zwei Mal nett angelächelt hat. Es gibt deshalb mehrere Dutzend Personen, die wir im Laufe der Zeit abklopfen müssen. Verwandte, Freunde und Bekannte der Familie, Nachbarn, den Mann aus der Frittenbude und so weiter. Die SOKO umfasst zwar zwanzig Leute, und wir haben Unterstützung von den Uniformierten. Allesamt sind wir vierzehn Stunden am Tag auf Achse, aber bei der Fülle der Möglichkeiten können wir nur Punkt für Punkt abarbeiten.“
„Kariiiiin!“ Frauke stürmte derart auf ihre Patentante zu und umklammerte ihre Hüften, dass Karin beinahe das Gleichgewicht verlor. Danach sprang sie an Chris hoch, der die Arme ausgebreitet hatte und das Energiebündel auffing. Ein reichlich schweres Bündel, wie er schnell feststellte. Bevor er Frauke wieder absetzte, bekam er noch zwei dicke Schmatzer auf die schon wieder stoppeligen Wangen.
Mein Gott, sie ist schon wieder gewachsen, dachte er, während Frauke mit fliegenden Zöpfen ins Wohnzimmer der Vielhabers düste.
Die Kleine schien wie immer zu sein. Zeigte Karin voller Stolz „den Franz“, ihren neuen Teddy, der brummte, wenn man auf seinen Bauch drückte und kicherte, wenn man eine bestimmte Stelle an den Fußsohlen berührte. Und ebenso stolz sagte sie das kleine Einmaleins ohne Fehler auf.
Trotzdem war Chris unbehaglich zumute, als sie beim Essen saßen. Er sah verstohlen zu Horst hinüber, der sich mit einem Berg Mixed Pickles auf seinem Teller beschäftigte und offenbar noch nicht gemerkt hatte, dass ein Stückchen Perlzwiebel in seinem strohblonden Schnauzbart hängengeblieben war.
Dann blickte er zu der zierlichen Silke, die lächelnd beobachtete, wie ihre Tochter sich unbeholfen ein Schinkenbrot machte. Eine ganz normale Familie, mit alltäglichen Sorgen, Freuden, Ärgernissen. Eine Familie wie Millionen andere. Wie die Seibolds es bis vor ein paar Tagen noch gewesen waren und nun nie wieder sein würden.
„Duhu?“, fing Frauke plötzlich an und wandte sich an Karin, die neben ihr saß. „Ist Claudia jetzt im Himmel?“
Einen Augenblick lang sah Karin bestürzt drein. Sie war absolut nicht religiös und bei Fragen nach Himmel, Engeln und dergleichen schlicht überfordert.
„Der Kaplan Dürwald hat das gesagt“, half Frauke ihrer Patentante unwissentlich aus der Patsche.
Karin räusperte sich. „Äh … da wird der Kaplan Dürwald wohl Recht haben.“
„Und was macht sie jetzt da oben?“
„Schlittschuh laufen vielleicht“, schlug Silke vor. „Oder über die Wasserrutsche sausen.“
„Roller fahren“, bot Horst an und zupfte sich endlich die
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