Mantelkinder
dieser seltenen Kinder gewesen, die jeden in ihren Bann zogen und verzauberten. — Und genau das hatte wahrscheinlich zu ihrem Tod geführt.
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Chris fand gerade noch Zeit, sich in seine geliebte Tageszeitung zu vertiefen, ehe er zu den Seibolds aufbrechen musste, wo sie alle mit dem Bestattungsunternehmer die Details besprechen wollten. Danach würde Chris dem Caribbean Club einen Besuch abstatten — wegen der Wohnung und wegen dem, was er Susanne angedroht hatte.
Immer noch war der Tod des kleinen Mädchens Thema Nummer eins im Lokalteil. Die Pressekonferenz mit Marlene Breitner am Tag zuvor war dürftig gewesen. „Wir haben es mit einem Sexualdelikt zu tun, dessen Brutalität selbst erfahrene Beamte schockiert hat“, wurde sie zitiert. Sie bat um Verständnis, dass im Interesse der Familie keine Details veröffentlicht würden. Und natürlich ermittelte man mit Hochdruck. Das gebot allein schon die „Schwere des Verbrechens.“
Da man damit keine ganze Seite füllen konnte, hatten sich die Journalisten auf das Umfeld von Claudia gestürzt. Und je weiter Chris las, desto mehr sträubten sich ihm die Nackenhaare. Nachbarn waren interviewt worden, die sich allesamt „tief erschüttert“ und „fassungslos“ zeigten und im nächsten Atemzug Privates aus dem Leben der Seibolds herausplapperten. Schwarz auf weiß stand da, dass Monika Seibold einen Mini-Job bei einem Supermarkt gegenüber dem Uni-Center hatte. Grimmig fragte er sich, ob der Laden jetzt mehr Umsatz machte, weil eine Art Katastrophentourismus einsetzte und die Leute mal durch die Gänge streifen wollten, in denen die trauernde Mutter Regale aufgefüllt hatte. Nachdem er auch noch lesen musste, dass Wolfgang Seibold in der Amateurmannschaft von Rot-Weiß Hockey spielte, warf er das Blatt angewidert in den Papierkorb.
Als er in der Tiefgarage seinen alten schwarzen Nissan aufschloss, fielen ihm wieder einmal die Dellen auf dem Dach und der Motorhaube auf, die sich im Neonlicht spiegelten. Wahrscheinlich glaubte alle Welt, das wäre noch ein Hagelschaden von dem entsetzlichen Sommergewitter, das vor ein paar Monaten über Köln gewütet hatte. Aber nicht die beinahe tennisballgroßen eisigen Kugeln hatten dem Wagen so zugesetzt, sondern Steine und Glassplitter, die nach der Explosion einer Lagerhalle auf den Nissan geregnet waren. Das Ende einer Geschichte, die mit den Ameisen auf seiner Kopfhaut angefangen hatte und nur mit einer gehörigen Portion Glück nicht in einem Doppelbegräbnis auf Melaten mündete. Auch damals hatte er sich eingemischt, war zu Tinni gegangen und hatte Informationen eingefordert.
Er legte die Hände auf das Dach seines Wagens und fuhr mit den Fingern durch die Dellen und Riefen in dem matten Lack. Wenn er nachher in den Caribbean Club ging und um mehr als Hilfe bei der Wohnungssuche bat, gab es kein Zurück mehr. Dann steckte er wieder einmal in einer Geschichte mit ungewissem Ausgang. Und irgendwie würde er das Karin beibringen müssen …
„Ist Ihnen nicht gut?“
Erschrocken fuhr Chris herum. Hinter ihm stand ein dicklicher älterer Mann mit Pepita-Hütchen und grauem Mantel, der mit einem Autoschlüssel in der Hand klimperte. Chris kannte ihn flüchtig. Er hatte das Büro im dritten Stock und war Handelsvertreter oder so was.
„N … nein“, stotterte Chris. „Ich meine: ja … Nein, alles in Ordnung.“
Der Dicke sah ihn zweifelnd an, stieg aber schließlich in den silbergrauen Mercedes, der neben dem Nissan stand. Gleich darauf schnurrte der Schlitten Richtung Ausfahrt. Chris starrte ihm hinterher und dann auf die nicht zu übersehenden Roststellen seines Wagens. Vielleicht hätte er Handelsvertreter werden sollen, statt Jurist mit ewig klammer Brieftasche.
Endlich ließ er sich auf den Fahrersitz gleiten und seufzte. Er hatte sich entschieden. Nicht für eine Umschulung, sondern alles zu tun, damit Claudias Mörder gefasst wurde.
Die Seibolds wohnten in einem der für Köln typischen Genossenschaftshäuser: schmucklos, gleichförmig, grau verputzt. Trotzdem hatte die Stauderstraße ihren Reiz, denn auf der westlichen Seite schlossen sich gleich die Grünanlagen des Uni-Geländes an, die im Sommer sicher dazu einluden, den ein oder anderen Abend draußen zu verbringen.
Als Chris sich der Haustür näherte, überlief ihn eine Gänsehaut. Ein Meer aus roten Kerzen stand dort, dazwischen Blumen und Stofftiere. Überall steckten kleine Zettel und vom Regen verwaschene, kindlich
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