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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Strickjacke. Susanne war plötzlich nicht mehr sicher, ob die weißen Handschuhe im Flur der Tante oder der Nichte gehörten.
    Die so konservativ wirkende Frau trat neben Susanne und deutete auf das Foto von 1975. „Meine erste Klasse nach dem Referendariat“, erklärte sie. „Ein schlimmes Jahr. Zweiunddreißig Schüler, und ich war ja noch sehr unerfahren. Ich glaube, wir haben uns das Leben gegenseitig recht schwer gemacht.“
    „Unterrichten Sie gern?“, fragte Susanne.
    „Aber ja!“ Albertini bedeutete ihnen, sich zu setzen und ließ sich selbst in einem der Sessel nieder. „Sehen Sie, Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, ist wichtig. Aber ich habe auch immer versucht, ihnen Liebe und Respekt voreinander mit auf den Lebensweg zu geben.“
    Ihr Blick wanderte zu der Fotowand. „Unterrichten ist nicht einfacher geworden. Die Klassenverbände sind zwar heute kleiner, dafür sind vor allem die Jungen disziplinloser. Aber in jedem Jahrgang sind Kinder dabei, die besonders reizend sind. Das entschädigt einen für vieles.“
    „War Claudia auch so ein reizendes Kind?“, fragte Susanne und zupfte an dem Häkeldeckchen auf der Armlehne ihres Sessels herum.
    Die wässrigen blauen Augen wurden sofort noch wässriger. „Claudia ist … war ein wunderbares Kind. Ausgesprochen klug und mit solch einem natürlichen Charme gesegnet …“
    Die Lehrerin zog ein rosa Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und tupfte sich die Augen. Erstickt fügte sie hinzu: „Man … man musste sie einfach gern haben.“
    „War sie in letzter Zeit anders als gewöhnlich? War sie bedrückt oder vielleicht besonders fröhlich, aufgekratzt, niedergeschlagen, so was in der Art?“ Susanne beugte sich gespannt vor. Die Antwort auf diese Frage konnte wichtig sein.
    „Nein, sie war wie immer“, versetzte Albertini jedoch und fügte hinzu: „Ich merke, wenn mit meinen Kindern etwas nicht stimmt. Und ich pflege gleich mit den Eltern darüber zu reden.“
    Sie zögerte eine Sekunde, ehe sie murmelte: „Besonders bei ihr hätte ich bemerkt, wenn sie anders gewesen wäre.“
    „Warum ausgerechnet bei ihr?“, schaltete sich Hellwein plötzlich ein.
    „Weil … weil …“ Die mühsam gewahrte Fassung von Albertini war dahin. Sie riss an ihrem Taschentuch und sprang schließlich wimmernd auf.
    Susanne ließ sie eine Weile hin und her gehen, gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Aber es dauerte.
    Erst als sie so behutsam es ihr möglich war, sagte: „Frau Albertini, wir brauchen ihre Hilfe“, blieb die Lehrerin stehen und ballte beide Hände zu Fäusten.
    „Claudia war … sie war das wunderbarste Kind, das ich je hatte. Hilfsbereit, hübsch und intelligent, mit einer unglaublichen Ausstrahlung. Sie war schlicht bezaubernd“, antwortete sie endlich auf Hellweins Frage.
    Sie tupfte sich die Augen und rutschte wieder in ihren Sessel. „Man begegnet selten Kindern, die sich so tiefe Gedanken über das Leben und die Welt machen. Ich erinnere mich noch an ihre Empörung, weil wir Menschen den Regenwald abholzen. Sie fand das so ungerecht, weil der Wald nicht uns, sondern den Tieren gehört. Sie sagte, das sei Diebstahl.
    Claudia war … Ich weiß kaum, wie ich es erklären soll … weise, das trifft es vielleicht. Und manchmal habe ich mich gefragt, wessen Inkarnation sie wohl sein mag. Sie … hatte etwas Außergewöhnliches. Und auf so ein Kind achtet man noch mehr, als auf die anderen. Ein solches Kind in der letzten Klasse vor meiner Pensionierung kennen lernen zu dürfen, war eine wunderbare Erfahrung — glauben Sie mir!“
    Noch einmal führte sie ihr Taschentuch an die Augen. Dann murmelte sie, immer wieder den Kopf schüttelnd: „Ich hätte es doch gemerkt, ich hätte es doch sicher gemerkt.“
     
    Als sie wieder auf der Straße standen, atmete Susanne erst mal tief durch. Wenn sie es auch nie zugegeben hätte, war sie doch erschüttert, wie diese feine, ältere Dame sich plötzlich mit Selbstvorwürfen gequält hatte. Wie sie mit einem Mal glaubte, Claudia nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt zu haben und die Polizisten immer wieder fragte, ob sie die Schuld am Tod des Kindes trug.
    „Inkarnation, hm?“, brummte Hellwein und ließ seinen Zeigefinger unmissverständlich an der Stirn kreisen.
    Susanne schluckte einen Kommentar hinunter. Sie wusste, was die Lehrerin meinte, denn nur zu gut erinnerte sie sich an ihre eigene Rührung und auch Betroffenheit, als sie das erste Foto von Claudia gesehen hatte. Sie war eines

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