Mantelkinder
Polizei wahrscheinlich schon ein Dutzend Mal beantwortet hatten.
Monika setzte sich zu ihrem Mann auf die Sessellehne und knetete nervös ein Taschentuch zwischen den Fingern. „Die ersten Wochen, als sie in die Schule gekommen war, nicht“, antwortete sie und schluckte heftig. „Da hab ich sie immer über die große Kreuzung an der Universitätsstraße gebracht und dort auch wieder abgeholt. Aber bald … bald hat sie mir erklärt, ich soll doch den Mist lassen. Sie wüsste, was rot ist, und sie wüsste, was grün ist. Danach … danach haben wir uns jeden Morgen mit dem Spruch verabschiedet: `Rot ist rot, und grün ist grün´ …“
„Sie ist immer so ein selbstständiges Kind gewesen“, murmelte Seibold. „Das letzte Jahr ist sie schon allein in den Kindergarten gegangen. Und ich hab ihr immer gesagt, sie soll mit niemandem mitgehen. Ich hätte aufpassen müssen auf meinen kleinen Engel. Sie war doch ein Engel. Ich hätte …“
Der Rest ging in einem erneuten Weinkrampf unter. Selten hatte Chris sich hilfloser gefühlt, als beim Anblick dieses weinenden Mannes. Steifbeinig stand er vom Tisch auf und setzte sich in den zweiten Sessel am Fenster. Fixierte die Schrankwand gegenüber und wartete.
„Glauben Sie, sie findet sich da oben überhaupt zurecht?“, fragte Seibold plötzlich und sah Chris an. „Immerhin gibt´s da viel mehr Erwachsene als Kinder.“
„Sie wird sicher klarkommen“, antwortete Chris mit rauer Stimme. „So selbstständig wie sie war.“
„Aber sie gehört da nicht hin“, sagte Seibold kopfschüttelnd. „Kein Kind gehört da hin!“
Wieder sprang er auf, nur um sich gleich wieder an den Esstisch zu setzen. Monika und Chris taten es ihm nach.
„Frau Seibold“, wandte Chris sich jetzt direkt an Claudias Mutter. „Die Tage vor ihrem Verschwinden, war da was? War sie anders? Ich meine …“
„Herrgott noch mal!“ Die Faust von Wolfgang Seibold sauste auf die Tischplatte mit der geblümten Decke. „Jetzt fangen Sie auch noch an! Die Polizei hat uns tagelang diesen Scheiß gefragt. Wo wir einkaufen waren. Was wir unternommen haben. Wer uns besucht hat. Wir haben jede verfluchte Minute der letzten drei Wochen rekonstruiert. Jede!“
Mit hochrotem Kopf sprang er auf und gestikulierte wild. „Da draußen hat sich so ein verdammter Wichser unsere Kleine geschnappt, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als zu fragen, ob Claudia anders war?“
„Setz dich hin, Wolfgang“, sagte eine ruhige, aber bestimmte Stimme von der Küchentür her. Unbemerkt war Monikas Schwester eingetreten. Ihr seltsam flaches Gesicht wirkte bekümmert. Aber sie sah ihren Schwager mit stillem Ernst an und hielt seinem Blick stand, bis er tatsächlich auf seinen Stuhl zurücksank.
Dann erst sprach sie weiter. „Es ist eben nicht so, dass sich einer Claudia einfach geschnappt hat. Nach allem, was wir von der Polizei wissen, war das von der ersten bis zur letzten Sekunde durchgeplant. Der hat sich gezielt an Claudia rangemacht, denn sie war kein Kind, das einfach einem Fremden vertraut hätte. Sie muss ihn gekannt haben, Wolfgang! Nur so ist zu erklären, dass sie mit ihm gegangen ist. Und deshalb ist es wichtig, ob sie sich anders als sonst verhalten hat. — Ist das bis hierhin richtig, Herr Doktor Sprenger?“
Als Chris nickte, trat Ulla Sieger näher und fasste ihren Schwager hart am Handgelenk. „Und wenn ihr der Polizei schon hundert Mal Rede und Antwort gestanden und hundert Mal jede Kleinigkeit aus dem Gedächtnis gegraben habt, werdet ihr das jetzt eben zum hundert und ersten Mal tun. Ist das klar, Wolfgang?“
Er nickte wie ein braver Schuljunge, und Chris sah Sieger beinahe bewundernd an. Sie hatte den einzigen Tonfall getroffen, der im Moment zu Claudias Vater durchdrang.
Seibold schob die Kaffeetasse auf dem Tisch hin und her und murmelte: „Wir zerbrechen uns andauernd den Kopf darüber, Doktor Sprenger. Wir haben sogar zugestimmt, dass die Zwillinge befragt wurden und selbst auch mit ihnen geredet. Die waren ja manchmal mit Claudia allein unterwegs. Wir sind schon so oft darum gekreist, ob etwas anders war, ob es was Ungewöhnliches gab. Aber da war nichts. Absolut nichts!“
„Doch, Wolfgang.“
Monika Seibolds Stimme war so leise, dass die anderen es fast überhört hätten. Sie stand unvermittelt auf und sah sie der Reihe nach an. Zum ersten Mal regte sich etwas anderes als Gleichgültigkeit in ihren Augen.
Mit eckigen Bewegungen, die an eine aufgezogene Puppe erinnerten,
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