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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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ging sie hinaus. Nach ein paar Sekunden kam sie zurück und legte eine zerdrückte, kleine Plastiktüte in die Mitte des Tisches. Dann trat sie zwei Schritte zurück, so, als wollte sie Abstand halten zu etwas Bösem. Sie steckte die Hände in die Ärmel ihrer Strickjacke und blickte auf die Tüte wie das Kaninchen auf die Schlange. Chris sah deutlich, dass sie zitterte.
    „Es war Anfang letzter Woche“, begann sie tonlos. „Sie hat gemeckert, weil sie kein Taschengeld mehr hatte. Es gab eine ziemliche Auseinandersetzung, weil sie nicht verstehen wollte, dass sie sich das Geld einteilen muss, damit es bis zum Monatsende reicht. Am nächsten Tag hab ich diese Tüte Lakritzschnecken in ihrer Schultasche gefunden. Ich war sauer, weil ich nicht wollte, dass sie so viel Süßkram mit in die Schule nimmt.“
    Monika Seibold zog die Hände aus den Ärmeln, ballte die Fäuste. Sie trat ans Fenster und drehte den anderen den Rücken zu. „Ich hab bisher nicht … Ich hab nicht darüber nachgedacht, dass sie … Wovon hätte sie die denn kaufen sollen?“
    Der letzte Satz war beinahe in einem Wimmern untergegangen. Wolfgang wollte aufspringen, aber Chris hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Jetzt ein Weinkrampf in den Armen ihres Mannes, und sie würde kein vernünftiges Wort mehr reden.
    „Sie haben sich die Schultasche jeden Tag angesehen?“, fragte Chris weich.
    „Ja. Wir haben … immer gemeinsam ihre Sachen gepackt. Die Tüte … sie war am Tag vorher nicht drin.“ Monikas Schultern bebten heftig. Es war grausam, sie da einfach so stehen zu lassen, aber Chris sah keine andere Möglichkeit.
    „Haben vielleicht Oma und Opa ihr was zugesteckt? Oder sonst einer?“
    „Die waren vor zwei Wochen das letzte Mal hier und anderen Besuch hatten wir nicht“, sagte Monika noch, bevor das Wimmern wieder einsetzte.
    Sie brach völlig zusammen. Trotz der Beruhigungsmittel wurde sie hysterisch, weil sie dieser kleinen Tüte Lakritzschnecken keine Bedeutung beigemessen hatte.
    Wolfgang wollte seine Frau zwar beruhigen und in die Arme nehmen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Sie stieß ihn weg, schlug um sich und schrie immer wieder: „Ich will mein Baby zurück! Ich will mein Baby zurück!“
    Schließlich fegte sie die Blumentöpfe von der Fensterbank, ehe es ihrer Schwester gelang, ein paar Topfblumen zu retten und Monika ins Schlafzimmer zu bringen.
    Wolfgang ging den beiden hinterher, und Chris kam sich ziemlich fehl am Platz vor. Er nahm die Tüte Lakritzschnecken an sich und verließ unbemerkt die Wohnung.
    Als er in seinem Wagen saß, atmete er erst einmal tief durch und rauchte eine Zigarette. Er hatte schon eine Menge unangenehme Situationen mit Mandanten erlebt. Tränenreiche Unschuldsbeteuerungen; Selbstmordversuche, weil man im Vollrausch einen Menschen totgefahren hatte; Zusammenbrüche, wenn Vergewaltigungsopfer die Tat schildern sollten. Irgendwie hatte er es immer geschafft, die Wogen zu glätten und die Leute zu beruhigen. Aber das, was er in den letzten Minuten erlebt hatte, ließ ihn einfach nur hilflos zurück. Es gab nichts, rein gar nichts, was Eltern einer ermordeten Sechsjährigen trösten konnte.
    Am liebsten hätte er sich jetzt mit einer guten Flasche Whisky in einem dunklen Winkel verkrochen und die Seibolds dieser Welt in Alkohol ertränkt.
    Er seufzte auf und murmelte, während er endlich den Wagen startete: „Kneifen gilt nicht, Sprenger.“
    Dann überlegte er, welches der vielen Parkhäuser er ansteuern sollte, die sich rund um die Altstadt verteilten, in deren Herzen sich Tinnis Bordell befand. Schließlich entschied er sich für die Tiefgarage des Maritim. Die war modern, hell und freundlich.
    Am Barbarossaplatz geriet er in den üblichen Stau und vertrieb sich die Wartezeit, indem er die Auslagen in den riesigen Schaufenstern eines Baumarktes betrachtete. Lebensgroße Nikolauspuppen kletterten mit schweren Säcken an Hauswänden aus Pappmaché nach oben. Darunter sprangen beleuchtete Rentiere durch künstlichen Schnee und überall blinkten Lichterketten in den unterschiedlichsten — meist scheußlichen — Farben.
    Endlich ließ er den Stau hinter sich und dachte darüber nach, wie schlicht dagegen die Weihnachtsdekorationen in seiner Kindheit gewesen waren. Ein paar Kerzen, Kugeln und Lametta und Schluss. Aber heutzutage ging es auch zu Weihnachten nur noch um „höher, schneller, weiter“.
    Eine gewisse Wehmut packte ihn. So sehr, dass er seinen Fehler zu spät erkannte.

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