Mantelkinder
die Hintertür klopfte, trieb der Wind einen leicht modrigen Geruch vom Fluss herauf und er verzog angewidert das Gesicht. Es dauerte eine Weile, ehe sich von innen ein Schlüssel drehte und Theo öffnete. Wie immer trug er Jeans und ein buntes Hawaii-Hemd, das um seinen mageren Oberkörper schlotterte. Beim Anblick von Chris hob er überrascht die Augenbrauen. Gleich darauf strahlte er über sein ganzes zerknittertes Gesicht.
„Du bist früh dran, mein kleiner Anwalt!“, krähte er und schlug Chris auf die Schulter. „Wolltest mal sehen, ob ich auch Frühstück machen kann. Hab ich Recht?“
Er war einige Zentimeter kleiner als Chris und dazu klapperdürr. Und Chris fragte sich zum wiederholten Mal, ob er und Tinni wirklich ein Verhältnis miteinander hatten, wie er vermutete. Einfach wegen der „technischen Probleme“. Schließlich wurde sie nicht umsonst im Milieu liebevoll die „Venus von Kilo“ genannt.
„Komm erst mal rein“, forderte Theo ihn auf, ehe er lakonisch feststellte: „Du siehst aus wie Braunbier und Spucke.“
„Charmant wie immer“, antwortete Chris und lachte zum ersten Mal heute.
Theo grinste von einem Ohr zum anderen. „Komisch, sagt Tinni auch ständig. Was ist passiert, hm?“
„Nichts, Theo“, wehrte Chris ab. „Gar nichts.“
„Na — das erzähl der alten Tinni mal. Die glaubt dir aufs Wort!“
Chris folgte ihm vorbei an Bierfässern, gestapelten Sprudelkästen, Kühlschränken und Kartons. Hinter einem schweren Samtvorhang verbarg sich Tinnis persönliches Reich, das einen sofort in die zwanziger Jahre versetzte und mühelos als Filmkulisse hätte dienen können. Allein der Kronleuchter über dem Esstisch war sehenswert. Die mit Ornamenten verzierten Schränke waren wahrscheinlich ein Vermögen wert, und die fragilen Tischchen mit den geschwungenen Beinen ebenso. Amüsiert sah Chris, dass es zwei Neuerwerbungen gab: Lämpchen mit gehäkelten Schirmen und baumelnden Quasten. Man musste sie nicht schön finden, aber sie passten zu der übrigen Einrichtung.
Tinni saß in ihrem geblümten Ohrensessel, wie einst Gertrude Stein. Als Chris den Vorhang bei Seite schob, sprang sie mit einer Geschwindigkeit auf, die ihr niemand zugetraut hätte und rollte auf ihn zu. Ihr massiger Körper war in einen dunkelblauen, seidenen Kimono gehüllt, der vorne nur locker gebunden war.
Zelt, dachte Chris unwillkürlich. Das muss aus einem Zeltladen kommen.
„Herrschaftszeiten!“, dröhnte sie und breitete die Arme aus. „Wieso kommst du nicht, wenn´s Essen gibt?“
Chris wurde umklammert und versank in dem weichen Fleisch, das aus dem Kimono quoll. Wie immer glaubte er sich kurz vor dem Erstickungstod, ehe sie ihn endlich freigab und auf Armeslänge von sich weghielt. Ihre kleinen Schweinsäuglein waren kritisch zusammengekniffen.
„Du siehst zum Kotzen aus“, stellte sie fest. „Was ist passiert?“
Zum zweiten Mal wehrte Chris mit einem „Nichts“ ab. Hatte ihm der Vormittag bei den Seibolds wirklich so zugesetzt, dass man ihm das sofort ansah? Sollte er nicht einfach nur seinen Job machen, statt sich weiter in die Geschichte reinziehen zu lassen? Karin würde an die Decke gehen, wenn sie das mitbekam. Und davor graute ihm. Aber nun war er einmal hier, und Tinni würde nicht locker lassen, soviel stand fest.
„Nichts“, brummte sie denn auch. „Du kommst zu einer unmöglichen Zeit hierher, dein Gesicht ist weiß wie ein Camembert. Aber es ist nichts! Erzähl das deiner Großmutter. Nun kotz dich schon aus, kleiner Anwalt.“
„Hör zu, ich wollte eigentlich …“, versuchte es Chris, wurde aber sogleich wieder unterbrochen.
„Hast du was gegessen?“
Automatisch schüttelte er den Kopf.
„Theo! Dein kleiner Anwalt braucht was zwischen die Kiemen!“, rief Tinni über die Schulter. „Und Kaffee! Mach uns Kaffee!“
Zehn Minuten später saß Chris vor einem reich gedeckten Tisch. In einem mit blauem Tuch ausgeschlagenen Bastkörbchen lagen goldgelbe Brötchen, die verführerisch rochen. Kaffeeduft stieg aus zierlichen Tassen mit Goldrand auf. Wurst-und Käseplatten waren liebevoll mit Gürkchen, Radieschen und Petersilie garniert. Auf einem weiteren Teller lachten ihn Schinkenröllchen an, und sein Magen meldete sich tatsächlich. Während er ein Brötchen mit Butter bestrich, wurde ihm etwas leichter ums Herz. Karin würde ihn verstehen. Auch ihr musste es doch wichtig sein, dass Claudias Mörder gefasst wurde.
Mit einem Mal hatte er richtig Kohldampf,
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