Mantelkinder
gemalte Bilder. Neben einem Strauß weißer Rosen lag die Vergrößerung von Claudias Fahndungsfoto, eingeschweißt in Folie, um es vor Feuchtigkeit zu schützen. Ein kleiner Plüschpanda war auf den Bürgersteig gekullert und Chris bückte sich, um ihn neben ein Töpfchen mit Hornveilchen zu setzen.
„Es werden immer noch mehr“, erklärte ein junger Hauptmeister, während sein Kollege sich telefonisch versicherte, dass Chris bei den Seibolds erwartet wurde. „Ganze Familien kommen hierher.“
Das Haus wurde Tag und Nacht von zwei Streifenwagenbesatzungen abgeschirmt. Manche Medienvertreter waren offenbar so skrupellos vorgegangen, dass ohne Personenkontrolle niemand mehr ins Haus kam.
„Die haben schon vor der Wohnungstür gestanden und versucht, Fotos zu machen“, erklärte der Polizist jetzt und kaute an seiner Unterlippe.
In der Wohnung herrschte eine bedrückende Stille. Mareike und Markus, die bei seinem ersten Besuch noch so etwas wie Normalität ausgestrahlt hatten, waren nirgends zu sehen oder zu hören und einen Moment lang hatte Chris das Gefühl, in einer überdimensionalen Grabkammer zu stehen.
Ulla Sieger nahm ihm gerade den Mantel ab, als Monika Seibold aus dem Schlafzimmer kam. Er erinnerte sich, wie sympathisch er die stämmige Frau mit dem runden freundlichen Gesicht gefunden hatte. Damals, als er wegen des Wasserschadens hier gewesen war. Jetzt lagen ihre blonden Haare strähnig um den Kopf und ihre Züge wirkten verhärmt. Ihre Pupillen waren klein wie Stecknadelköpfe. Sie stand also immer noch unter starken Beruhigungsmitteln. Trotzdem brachte sie ein zaghaftes Lächeln zustande, als sie Chris erkannte und drückte seinen Arm.
Der Bestatter war ein drahtiger Mann mit roten Apfelbäckchen. Er sprach ruhig und leise und schien zu wissen, was er tat. So hatte er schon mit einem Schulpsychologen und Claudias Lehrern gesprochen, die dafür plädierten, dass es eine Trauerfeier gab, bei der sich die Mitschüler von Claudia verabschieden konnten. Die Seibolds allerdings wollten zunächst überhaupt keine Öffentlichkeit. Also schlug er eine Trauerfeier für die Kinder und eine Beisetzung in aller Stille vor, womit letztendlich alle leben konnten.
Chris hielt sich bei all dem zurück, machte nur hin und wieder einen Vorschlag und beschränkte sich aufs Beobachten. Wolfgang und Monika Seibold wirkten gefasst, beinahe teilnahmslos, was sicher nicht nur an irgendwelchen Pillen lag. Im Moment spulten sie einfach ein Programm ab, taten, was zu tun war, wenn man einen nahen Verwandten verlor. Sie suchten einen Sarg aus, die Urne, die Blumengestecke, diskutierten Abläufe und kramten Unterlagen hervor, die der Bestatter benötigte. Der Zusammenbruch würde wohl erst kommen, wenn alles vorbei war.
Als der Mann mit den Apfelbäckchen sich verabschiedet hatte, fragte Wolfgang Seibold Chris über die Nebenklage aus, wollte wissen, wie der Ablauf war, welche rechtlichen Möglichkeiten sie hatten.
Chris wiegelte zunächst ab, weil das alles noch Zeit hatte und jetzt erst einmal die Beerdigung anstand. Aber Seibold bestand darauf, dass Chris ihm alles haarklein schilderte. Er spielte den starken Mann, der die Ärmel hochkrempelte, um ein Problem aus der Welt zu schaffen. Nur, dass der Tod seiner Tochter kein „Problem“ war, das man einfach so löste. Und Chris sah ihm an, wie mühsam beherrscht er war, wie sehr es in dem unrasierten Gesicht arbeitete. Warum mussten Männer immer so zwanghaft tapfer sein? Er war da selbst nicht anders. „Männer weinen nicht“. „Indianer kennen keinen Schmerz“. Ob Eltern jemals bewusst wurde, was sie ihren Kindern mit diesen Sprüchen antaten?
Also tat Chris Seibold den Gefallen. Aber er hatte kaum mit seinen Erklärungen angefangen, als Seibold von seinem Stuhl aufsprang, sich in einen geblümten Ohrensessel fallen ließ und in den grauen Novemberhimmel starrte.
Plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und schluchzte hemmungslos. Dazwischen sagte er immer wieder: „Wir hätten sie niemals allein gehen lassen dürfen. Niemals!“
Nach ein paar Minuten wischte er sich mit dem Ärmel seines karierten Hemdes über die Augen, zog die Nase hoch und sah Chris an. „Niemals hätte sie allein zur Schule gehen dürfen. Aber es waren ja nur ein paar hundert Meter, verstehen Sie? Ein paar hundert Meter!“
„Ist sie immer allein gegangen?“, fragte Chris so behutsam wie möglich.
Er hatte lange überlegt, ob er Fragen stellen sollte. Fragen, die sie der
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