Mantelkinder
festzustellen, dass sie nicht mehr als eine einzige neue Erkenntnis hinzufügen konnte: Die Lakritzschnecken.
„Also“, sagte sie dann, „wir wissen drei Dinge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.“ Sie setzte rote Kreuze an die entsprechenden Stichworte. „Claudia kannte ihren Mörder. Er fährt einen blauen Fiesta, der in einen Unfall verwickelt war. Eine Tüte Lakritzschnecken, die sich in ihrer Schultasche befand, ist nachweislich in einem Supermarkt in Gremberg gekauft worden. Drei Anhaltspunkte. Was machen wir daraus?“
„Er arbeitet in der Neustadt-Süd und wohnt in Gremberg“, schlug Klippstein vor. Er war so tief in seinen Stuhl gerutscht, dass sein Nacken die Rückenlehne berührte. Wie immer standen Schweißperlen auf seiner Stirn. „Oder anders herum.“
Müller saß weit vornübergebeugt da und sah mit gerunzelter Stirn auf die Tafel. „Wieso lässt er den Wagen nicht reparieren?“, platzte er heraus. „Im Profil des LKA wird er als penibel beschrieben. Und trotzdem fährt er mit so einem Auto rum?“
„Können wir denn überhaupt sicher sein, dass der Wagen, der im Gremberger Wäldchen gestanden hat, in die Sache verwickelt ist?“, warf Hansen ein. Sie saß in der hintersten Reihe und wirkte mit ihren Jeans, den hohen Stiefeln und der schwarzen Lederjacke wie eine Motorradbraut.
„Nicht hundertprozentig“, gab Susanne zu. „Aber kann es Zufall sein, dass wir an beiden Orten einen blauen Unfallwagen haben? Wobei wir nur über den Wagen in Gremberg mehr wissen. Über den Wagen in Sülz gibt es immer noch die unterschiedlichsten Aussagen.“
Sie sah der jungen Kollegin an, dass sie eigentlich auf etwas anderes hinauswollte. Dass sie auf einer Fährte war, die nichts mit Müll zu tun hatte. Aber sie sah auch, dass Hansen über ihren Einfall nicht reden würde. Nicht vor allen hier und nicht, bevor ihr Idee konkreter geworden war. Und sie spürte ihre Verunsicherung. Sie war gerade mal zwei Monate im Dienst. Wie sollte sie da einschätzen, ob Eigeninitiative auf Gegenliebe stieß? Außerdem würde sie früher oder später Schneider in die Quere kommen, wenn sie sich Gedanken über das Auto machte — was für jeden Kollegen unangenehm war, für ein Greenhorn wie sie allemal.
Die beiden Frauen sahen sich kurz an und Susanne nickte unmerklich. Hansen würde volle Rückendeckung haben.
Nach dieser stillen Absprache verkündete Susanne: „Und jetzt ist Schluss für heute. Sie alle haben Familie, die vielleicht mal wieder erleben möchte, dass Sie geduscht und rasiert am Frühstückstisch sitzen. Vor morgen Mittag will ich hier keinen von Ihnen sehen!“
Hellwein und ein paar anderen Beamten war die Überraschung anzusehen. Natürlich, sie würden nach dieser kurzen Pause alle ausgeruhter sein und mit neuer Motivation und Enthusiasmus die „verlorene“ Zeit wettmachen. Aber wann hatte Susanne sich das letzte Mal für die Belange der Kollegen interessiert? Seit zu Hause niemand mehr auf sie wartete, sicher nicht.
Als die Versammlung sich auflöste und Hellwein im Vorbeigehen hörte, wie Susanne sich bei Hansen erkundigte, ob deren Kinder gut versorgt waren, wurde ihm angst und bange. Die Tatsache, dass Susanne eine andere Person als Menschen mit Wünschen, Bedürfnissen, Sorgen und Nöten wahrnehmen konnte, war mehr als beunruhigend.
Okay, als Polizist glaubte er nicht an Wunder. Also musste seine Vorgesetzte dabei sein, den Verstand zu verlieren und sie wusste nicht mehr, was sie redete.
Er ging hinaus und kratzte sich das Kinn, wobei ihm da erst auffiel, dass er heute Morgen vergessen hatte, sich zu rasieren. Während er vor dem Versammlungsraum auf Susanne wartete, versuchte er, seine Verwirrung abzuschütteln. Über ihr Verhalten wie auch über die vergessene Rasur. Letzteres war ihm seit mindestens zehn Jahren nicht mehr passiert. Und da war noch etwas. Ein unerklärliches Gefühl um die Magengegend herum. Als ob ein kleines Tier mit den Flügeln schlüge, aufgeregt flatterte.
Als Susanne endlich kam, war er zwar immer noch mit seinem Magen beschäftigt, trotzdem gelang ihm ein breites Grinsen. „Trautes Familienfrühstück mit Partner und Kindern, hm?“
„Wir können alle eine Pause vertragen“, knurrte sie.
„Da es uns an Familie hapert — wie wär´s, wenn wir gemeinsam frühstücken?“
Skeptisch sah sie ihn an. „Und wir schalten dabei ab, reden nicht über den Fall, nicht über die Polizei als solche und überhaupt?“
„Wir könnten´s ja
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