Mantelkinder
unbedingt wohnen oder arbeiten. Überleg mal: Wie oft ist man irgendwo unterwegs. Da fällt einem ein, dass man noch was einkaufen muss und geht in den nächstbesten Supermarkt.“
„Und der blaue Fiesta?“
„Früher oder später werden sie ihn bestimmt finden. Keine Ahnung, wie viele Modelle aus den Baureihen zugelassen sind, aufwändig wird die Suche allemal. Ich geb´s gleich noch Theo durch. Mal sehen, ob was dabei rumkommt.“
Samstag, 10. November
„Gott, was für eine Kacke!“ Hellwein betrachtete angewidert den stetig wachsenden Papierberg auf seinem Schreibtisch.
„Bewahr dir deinen positiven Denkansatz und mach weiter“, verlangte Susanne trocken und ohne aufzusehen. Sie sichtete die von Müller notierten Hinweise, die aufmerksame Bürger immer noch an die Polizei weitergaben. Es waren inzwischen über dreihundert mehr oder weniger ernstzunehmende Beobachtungen, die nach Prioritäten sortiert werden mussten.
„Du kannst mich mal!“, zischte Hellwein und sprang mit hochrotem Gesicht auf.
Ihr war keineswegs entgangen, dass er schon seit zwei Tagen zunehmend gereizt und aggressiv wirkte. Deshalb legte sie die Aussage, die sie gerade gelesen hatte, zur Seite und sah streng über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. „Was ist los mit dir, Heinz?“
„Nix! Ich krieg meine Tage“, brummte er trotzig.
Wie so oft konnte sie auch jetzt nicht lachen. Sie nahm die Brille ab, stand auf und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. „Okay, Heinz! Wir sind alle müde, mehr oder weniger überfordert und angespannt. Aber du stehst kurz vor der Explosion. Nun sag schon, was los ist!“
Hellwein drehte sich zum Fenster und murmelte etwas Unverständliches. Der ruhige, besonnene und ausgeglichene Hellwein! Sie ahnte, was in ihm vorging. Und nur ungern tat sie nun das, was ihr als der Ranghöheren durchaus zustand, was sie tun musste, um nicht die ganze Ermittlung zu gefährden, weil einer aus dem Team sich nicht im Griff hatte.
„Also gut!“, sagte sie hart. „Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du sagst es mir oder unserem Seelenklempner. Aber spuck´s aus!“
Er senkte den Kopf und stopfte die Hände in die Taschen seiner dunkelblauen Hose. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
„Ich hab Schiss“, sagte er schließlich leise. „Ich hab Schiss, dass es noch nicht zu Ende ist, dass er nochmal so was macht! Verstehst du? Ich hab Schiss, dass ich das nochmal sehen muss … Ich pack das nicht, Susanne … Ich pack das einfach nicht!“
Sie betrachtete seine hochgezogenen Schultern, den runden Rücken und gestand sich ein, dass sie nicht weniger Angst hatte als er. Vor einem zweiten toten Kind. Vor diesem Anblick. Ob es ihm half, wenn sie ihm zeigte, dass es ihr genauso ging? Spontan entschloss sie sich zu einem Geständnis, das sie auch vor Chris kaum so formuliert hätte.
Sie setzte sich auf den Stuhl vor Hellweins Schreibtisch und murmelte: „Ich auch, Heinz. Ich auch. Und ich hab fast danebengekotzt, als ich sie gesehen habe.“
„Du?“ Endlich drehte er sich herum. „Ich dachte immer …?“
„Was dachtest du? Dass mich nichts und niemand aus den Pantinen haut? Oh ja — die ´eisige Braun`! Glaubst du, ich weiß nicht, wie sie mich hier im Dezernat nennen?“
„Die eisige Braun bist du wohl erst, seit dein Mann tot ist!“, blaffte Hellwein zurück. Draußen war´s!
Er biss sich auf die Lippen. Seit fünf Jahren wollte er mit ihr über Peter Braun sprechen. Verstehen, warum aus der attraktiven und charmanten Frau, wie sie von älteren Kollegen beschrieben wurde, dieser verbitterte Bullterrier geworden war. Und jetzt vermasselte er es komplett!
„Lass Peter aus dem Spiel!“, herrschte sie ihn an. „Er hat damit nichts zu tun!“
„Ach nein? Und wieso tust du seitdem so, als käme da null mehr an?“ Er stach sich mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Was hat dich so verletzt, dass du die eiserne Lady spielen musst?“
„Hör auf damit, Heinz!“, sagte sie scharf. Sie hätte es wissen müssen. Wieso, zum Teufel, hatte sie nicht den Mund gehalten? „Wir sollten unseren Job machen und Schluss!“
„Ich könnte ihn besser machen, wenn ich wüsste, was in dir vorgeht“, murmelte Hellwein.
„Ich kann nicht, Heinz. Nicht dir gegenüber!“ Sie stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. „Es würde bedeuten, dass du mir nahe bist. Und ich will keinem Polizisten mehr nahe sein.“
Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren? Was redete sie denn da? Sie rannte
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