Mantelkinder
zur Tür, hinaus in den Flur und ließ einen völlig verdatterten Hellwein zurück.
Wie in Zeitlupe sank er auf seinen Stuhl und atmete erst mal tief durch. Alles hätte er erwartet. Absolut alles! Von einem heftigen Anschiss bis zu: „Halt den Rand, Heinz. Wir müssen die Teambesprechung vorbereiten“. Aber nicht das. Weiß Gott nicht das!
Letzten Endes hatte sie damit gesagt, dass sie ihm eigentlich nahe sein wollte. Und er könnte schwören, dass dabei ein verdächtiges Glitzern in ihren Augen war. Es gab also doch eine undichte Stelle in ihrem Panzer. Eine, die ihn betraf. Er kratzte sich nachdenklich das Kinn. Was bedeutete das? Schenkte sie ihm so wenig Beachtung, weil sie ihn mochte? Schnauzte sie ihn genauso an wie die anderen Kollegen, um zu kaschieren, dass sie ihn schätzte? Gab es etwa die Chance, die „eisige Braun“ aufzutauen? — In seiner Verwirrung wurde ihm gar nicht richtig bewusst, dass seine Angst vor einem weiteren toten Kind wie weggeblasen war und er plötzlich ein paar Takte aus Beethovens Neunter vor sich hin summte.
Als Susanne kurz darauf den Kopf zur Tür hereinsteckte, war ihr Gesicht verschlossen wie immer. „Können wir uns wieder dem Wesentlichen zuwenden?“, fragte sie kurz angebunden und sah auf die Uhr. „Es wird Zeit!“
Der Besprechungsraum war fast überfüllt, weil Susanne darauf bestand, dass alle Mitglieder der SOKO an der sogenannten „Abendlage“ teilnahmen, die jeden Tag um 18 Uhr stattfand. Sie wollte, dass alle den gleichen Wissensstand hatten und nichts von dem verloren ging, was vielleicht zunächst unwichtig erschien. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass der Unterschied zwischen dem, was der Einzelne ermittelt hatte und dem, was der Teamleiter für erwähnenswert hielt, erheblich sein konnte. Außerdem war es gut, wenn sich indirekt alle mit allem befassten. So konnte hoffentlich der „Scheuklappen-Effekt“ verhindert werden. Wer Tag und Nacht mit blauen Autos beschäftigt war, stellte vielleicht keinen Zusammenhang mit anderen Dingen her, die gemeinsam mit dem blauen Auto den Durchbruch bedeuten konnten. Wie richtig sie mit dieser Einschätzung lag, zeigte sich — zunächst nur für Susanne selbst — an diesem Samstagnachmittag.
Der Raum glich beinahe einem Schulzimmer. Ein großer Tisch vorn, dahinter eine Magnettafel, an der Claudias Fahndungsfoto hing, Stadtplanausschnitte von Sülz und Gremberg, sowie Zettel mit Stichworten zu den bisherigen Ermittlungen. Für die Teammitglieder waren Stühle mit ausklappbaren Tischchen in Dreierreihen aufgestellt.
An dem großen Tisch vorn saß schon eine ungeduldig wirkende Marlene Breitner. Die Oberstaatsanwältin drehte eine kupferrote Strähne, die aus dem Haarband gerutscht war, zwischen den Fingern und wippte mit dem rechten Fuß. Als Susanne und Hellwein sich nun neben sie setzten, steckte sie die Strähne hinters Ohr und strich ihren dunkelblauen Rock glatt.
Zunächst verlief der Abend genauso frustrierend wie die davor. Die Lakritzschnecken waren die einzige Neuigkeit. Ansonsten keine heiße Spur. Alles schien sich in Nichts aufzulösen. Die gesicherte DNA war nicht in ihrer Datenbank erfasst, der blaue Fiesta schien ein Phantom zu sein. Auch die Auswertung der Bilder im Starenkasten ergab nichts. Am Abend und in der Nacht des 2. November hatten die Induktionsschleifen in der Fahrbahn nur zwei Mal reagiert. Beide Fahrer konnten jedoch als Täter ausgeschlossen werden. Die Plakataktion auf dem Unigelände erwies sich als wirkungslos, und Petra Hansen, die immer noch im Müll wühlte, konnte weder den Roller, noch den Rucksack finden.
Sie sieht mitgenommen aus, stellte Susanne im Stillen fest, als die zierliche junge Frau mit ihrem Bericht an der Reihe war. Die grünen Augen lagen tief in den Höhlen, und die scharfen Kerben an den Mundwinkeln passten so gar nicht in dieses sonst so jugendlich-unbekümmert wirkende Gesicht. Sie war erst im September zur Kripo gekommen, und gleich bei so einem Fall mitzuarbeiten, war sicher nicht einfach. Außerdem hatte sie zwei Kinder, die ungefähr in Claudias Alter waren, was die emotionale Belastung sicher noch erhöhte. Oder sie war einfach gestresst, weil sie eigentlich eine Halbtagsstelle hatte, im Augenblick jedoch ebenso viele Stunden arbeitete, wie die Vollzeitkollegen auch.
Hellwein stieß Susanne mit dem Ellbogen an und riss sie aus ihren Gedanken. Alle sahen sie erwartungsvoll an. Etwas verlegen stand sie auf und ging an die Magnettafel. Nur, um
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