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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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wenigstens versuchen.“ Er ging mit langen Schritten Richtung Treppenhaus und rief über die Schulter: „Zehn Uhr, Café Reichert, Wintergarten.“
     

Sonntag, 11. November
     
    Hellwein erlebte gleich zwei Überraschungen. Die erste war, dass sie tatsächlich um kurz nach zehn den Wintergarten des Café Reichert betrat. Die zweite erschloss sich ihm nicht sofort. Etwas war anders an ihr, aber er brauchte volle zehn Minuten, bis er erkannte, was es war und noch einmal fünf, um es zu begreifen. Ihr Haar, das längst mal wieder einen Friseur verdient hätte, war zerzaust und stumpf wie immer. Aber ihre Kleidung! Die helle Hose hatte messerscharfe Bügelfalten, die Jeans-Bluse ebenfalls, der Blazer zeigte keine glänzenden Stellen und war halbwegs modern geschnitten. Das Schockierendste war jedoch der Lidschatten. Sie hatte wirklich und wahrhaftig einen Hauch von Lidschatten aufgelegt. Und es sah verteufelt gut aus!
    Ihm wurde heiß und kalt gleichzeitig. Gestern drei menschliche Regungen, heute Lidschatten. Wenn das so weiterging …
    Er konnte ja nicht ahnen, dass seine Vorgesetzte die Nacht in für sie untypischer Weise verbracht hatte. Eigentlich schlief sie immer wie ein Stein. Letzte Nacht aber fand sie keine Ruhe. Sie wälzte sich nur herum und ein Gedanke jagte den anderen.
    Das unselige Gespräch mit Hellwein war nur das i-Tüpfelchen auf dem, was sie seit Monaten umtrieb. Seit Karin eine harmlose Bemerkung darüber gemacht hatte, dass sie sich offenbar leicht verrannte. Danach war nichts mehr so gewesen wie es war. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie andere Menschen sie wohl wahrnahmen. Das Ergebnis dieser Überlegungen bekleckerte sie nicht gerade mit Ruhm.
    Weiter kam Susanne mit ihrer Analyse nicht mehr. Und auch vor einer Veränderung ihres Auftretens schreckte sie zurück. Sie blieb weiterhin der „Angstbeißer“, damit bloß niemand merkte, dass die Hauptkommissarin Susanne Braun verletzliche Seiten hatte — mehr als ihr lieb waren.
    Trotzdem schien etwas mit ihr passiert zu sein, denn vor ein paar Wochen sagte Chris wie beiläufig: „Du bist weicher geworden. Kann das sein, Susanne?“ Und sofort zog sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück, machte eine flapsige Bemerkung und ging ihm vierzehn Tage aus dem Weg.
    Und jetzt also Hellwein, der den Nerv getroffen hatte. Dem wahrscheinlich schon seit fünf Jahren klar war, dass sie seit Peters Tod keinen Grund mehr sah, mit ihren Mitmenschen und sich selbst respektvoll umzugehen. Für wen auch hätte sie sich die Mühe geben sollen?
    Letzte Nacht dann traf sie die Erkenntnis wie ein Keulenschlag: Es hatte immer nur einen Menschen gegeben, für den sie respektvoll mit sich umgehen sollte — sie selbst!
    Sie sprang aus dem Bett und fing an, in alten Fotoalben zu blättern. Stellte sich damit vor den Spiegel. Das Ergebnis war grauenvoll. Plötzlich hätte sie am liebsten den erstbesten Friseur aus dem Bett geklingelt und die Macht ihres Dienstausweises benutzt für einen neuen Haarschnitt.
    Stattdessen zog sie das Bügelbrett aus der Nische zwischen Wand und Kleiderschrank, staubte es ab und fing an, wie eine Wilde zu bügeln. Danach durchforstete sie ihren Kleiderschrank, füllte zwei Altkleidersäcke und überlegte lange, was sie zu dem Frühstück mit Hellwein anziehen sollte. Sie war so ungeduldig und kribbelig, dass sie sowieso nicht hätte schlafen können. Erst der Fund des verstaubten Kästchens Lidschatten beruhigte sie halbwegs. Er war uralt und steinhart, aber mit ein bisschen Spucke machte sie ihn wieder brauchbar. Es war das erste Zugeständnis an sich selbst — bis sie einen Friseur aufgetrieben hatte, der auch montags öffnete.
    Sie schafften es tatsächlich, nicht über Claudia zu sprechen. Das Polizistendasein im Allgemeinen konnten sie jedoch nicht ausklammern. Mit einem grandiosen Blick auf die beiden Domtürme, die sich hoch in einen ausnahmsweise strahlend blauen Novemberhimmel streckten, diskutierten sie über Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung, Personalmangel und vorsintflutliche Computer.
    Susanne fühlte sich wohl wie selten. Sie bediente sich mehrmals am Frühstücksbuffet und aß mit gesundem Appetit. Zwischen den üppigen Palmen und Schlingpflanzen mit einem strahlenden und fröhlichen Hellwein zu sitzen, entlockte ihr fast ein wohliges Brummen. Und sie hätte ihm gern gesagt, wie gut seine Idee gewesen war, wie gut es ihr hier mit ihm ging. Sie wusste nur nicht wie. Die „eisige

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