Mantelkinder
sagte Chris und fragte sich, ob er nach dem Schälchen Mousse au Chocolat, das Theo servierte, einen Kollaps erleiden würde. Diagnose: „plenus venter“, hoffnungslos überfressen.
Aber die Mousse war so luftig-locker, dass sie doch noch in den Magen passte.
„Oh Gott, noch ein Bissen und ich sterbe“, murmelte Karin, die ebenfalls tapfer ihr Dessert gelöffelt hatte.
„Ist alles eine Frage des Trainings“, sagte Tinni lachend und klopfte sich auf den mächtigen Bauch. Sie lehnte sich entspannt zurück und wies Theo mit einem Nicken an, für Espresso und Cognac zu sorgen.
Aus der Bar nebenan hörte man Gemurmel, Gläserklirren und leise Musik. Aber das Geschäft schien noch nicht gut zu laufen. Sonst hätte der Barkeeper schon längst Marianne Rosenbergs „Er gehört zu mir“ aufgelegt, als Zeichen für Tinni, dass der Laden voll war.
Die „Venus von Kilo“ rutschte etwas tiefer in ihren Sessel, schlug die Ärmel ihres weiten Kaftans ein wenig nach oben und seufzte wohlig. Sie würde sich jetzt eine Zigarette anzünden und nach spätestens zwei Zügen auf das Geschäftliche zu sprechen kommen. Wie immer. Gespannt beugte Chris sich vor.
Das Feuerzeug verschwand beinahe in ihrer kleinen feisten Faust, als sie sich die Zigarette anzündete und Karin und Chris die Packung zuschob, damit sie sich ebenfalls bedienen konnten. Sie inhalierte tief und blies ein paar Ringe in die Luft.
„Sag mal“, meinte sie dann, allein an Chris gewandt, „du kennst doch das Gelände an der Geestemünder Straße.“
„Na ja, kennen ist zu viel gesagt“, antwortete er. „Ich bin über den Bus vom SkF nie hinausgekommen.“
Worauf wollte Tinni wohl raus? An der Geestemünder Straße hatte man vor einigen Jahren ein Areal eingerichtet, wo die drogenabhängigen Prostituierten ihrer Arbeit nachgehen konnten. Vorher waren sie trotz Sperrbezirk, hoher Polizeipräsenz und Verhaftungen wegen illegaler Prostitution, immer wieder in der Innenstadt aufgetaucht. Das Gelände, das sie jetzt zur Verfügung hatten, lag zwar etwas außerhalb, aber es gab dort sanitäre Anlagen, Notrufeinrichtungen und so genannte „Verrichtungsboxen“, in die die Freier gleich ihre Wagen fahren konnten. Mehrmals in der Woche standen dort auch ein paar Mitarbeiterinnen vom Sozialdienst katholischer Frauen mit einem Bus. Dort konnten sich die Prostituierten aufwärmen, bekamen sterile Spritzen, Kondome und heißen Tee. Wenn Chris eine seiner Klientinnen anders nicht finden konnte, versuchte er es regelmäßig im Bus.
„Na, du solltest mal wieder hinfahren“, sprach Tinni jetzt weiter. „Da gibt´s wohl einen Stammfreier, der ziemlich ausgefallene Wünsche hat. Die Mädchen müssen immer so tun, als ob sie sich verweigerten und ihm sagen, wie schmutzig er ist.“
Auch wenn Karin leicht angewidert guckte, konnte Chris dem noch keine Besonderheit beimessen. Verweigerung und Beschimpfung war fast die harmloseste Form der ausgefallenen Wünsche.
Aber Tinni fügte wie beiläufig hinzu: „Er fährt übrigens einen Fiesta mit verbeultem Hinterteil.“
Sie fuhren direkt vom Caribbean Club zur Geestemünder Straße. Tinni hatte ihnen noch den Namen Nadine genannt, die von dem Freier bevorzugte Prostituierte. „Und lasst euch nicht von ihrem Loddel erwischen“, riet sie, „der sieht es nicht so gern, wenn seine Mädels ausgequetscht werden.“
Das Areal lag an der nördlichen Stadtgrenze, gegenüber den riesigen Industrieanlagen einer Chemiefabrik. Als es angelegt wurde, hatte Chris Zweifel gehabt, ob es angenommen werden würde. Einfach, weil man dort nicht mal eben im Vorbeigehen ins Geschäft kam. Aber es schien genügend Männer zu geben, die für schnellen Sex eine weite Fahrstrecke in Kauf nahmen, denn die Mädchen verdienten nicht schlechter als früher in der Stadt.
Karin, die am Steuer saß, schien sich ähnliche Gedanken zu machen, denn als sie vor einer roten Ampel hielten, fragte sie: „Was habt ihr Kerls eigentlich davon? Weißt du, ich kann ja noch verstehen, wenn man sich von einer Edelnutte verwöhnen lässt oder in Tinnis Puff. Aber der Straßenstrich, zehn Minuten im Auto …“
„Sexualverkehr mit Drogenabhängigen bringt wohl einen ähnlichen Kick wie Bungee-Springen. Jedenfalls ungeschützter Verkehr“, erklärte Chris, während ein alter Mann mit zottigem Bart und ebenso zottigem Hund den Zebrastreifen überquerte. „Meinen die Soziologen zumindest. Außerdem ist es billig.“
Er fummelte einen Fünfziger aus der
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