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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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und ihren Beruf. Die Rangfolge war dabei meistens etwas unklar. Als sie jetzt auf das Schaufenster eines renommierten Fotohändlers zusteuerte, war sie jedoch eindeutig. Mit leuchtenden Augen blieb sie vor der Auslage mit den gebrauchten Stücken stehen. In drei hohen Vitrinen reihten sich Kameras und Objektive, die für Chris alle gleich aussahen.
    „Nun sieh dir das an!“, jauchzte seine Liebste. „Die haben tatsächlich ein altes Fe-Gehäuse! Mit dem Ding kannst du einen Nagel in die Wand hauen und es funktioniert immer noch. Wer verkauft so was bloß? Ich würde meins nie hergeben!“
    Ihr Blick schweifte sehnsüchtig zu den Objektiven. „Wenn die vielleicht ein Nikkor-Makro fünfundfünfzigeinszuzwokommaacht hätten …“
    Chris dachte an Weihnachten und versuchte, sich einen Knoten ins Hirn zu machen. Was auch immer ein Nikkor-Makro war — mit Hilfe von Achim und Klaus, in deren Fotoladen sie manchmal aushalf, müsste es aufzutreiben sein.
    Karin wandte sich enttäuscht ab — sehr zu seiner Erleichterung. Es war nicht einfach, einer Frau etwas zu schenken, die an Äußerlichkeiten keine Ansprüche stellte. Sie trug kaum Schmuck, hatte für den Alltag ein Paar winzige Kreolen und für die feierlichen Anlässe Saphirohrstecker und einen passenden Anhänger. Das genügte ihr, wie sie immer wieder betonte. Und auch auf ihre Kleidung legte sie wenig wert. Zwei, drei Jeans und ein paar Blusen reichten ihr als „Grundausstattung“. Geschirr und Gläser waren für sie Gebrauchsgegenstände, die praktisch zu sein hatten und sonst gar nichts.
    Wichtig hingegen waren ihr Bücher und Musik. Daher hatte Chris schon fest eine Kafka-Gesamtausgabe als Weihnachtsgeschenk eingeplant. Vor ein paar Wochen erst hatte sie nämlich beiläufig gemeint, sie würde gern mal alles von ihm lesen. Im Gegensatz zu Chris konnte sie sich für die alten Literaten begeistern. Sie liebte Fontane und Tolstoi, Hesse und Huxley. Vor allem aber hatten es ihr die Klassiker angetan. Sie konnte ganze Passagen aus Lessings „Nathan“ oder Goethes „Werther“ hersagen, und die Dramen von Schiller schien sie beinahe komplett auswendig zu können. Letzte Woche erst, als sie auf der Festungsmauer von Angeres standen und unter sich nichts als saftige Wiesen und grasende Rinder sahen, überraschte sie ihn mit einem Zitat aus Maria Stuart. Sie breitete die Arme aus und rief: „Lass mich ein Kind sein, sei es mit! Und auf dem grünen Teppich der Wiesen prüfen den leichten geflügelten Schritt.“
    Als Karin sich jetzt endlich von dem Laden lösen konnte, dachte er nur immer wieder: „Nikkor-Makro, fünfundfünfzigeinszuzwokommaacht, Nikkor-Makro …“, und hoffte, dass er es richtig im Kopf behielt. Sehr zuversichtlich war er allerdings nicht. Es gab Dinge im Leben, da glich sein Gedächtnis einem Sieb. Dazu gehörten nicht nur sein ewig unverschlossenes Auto und der überfüllte Abfalleimer, sondern auch Zahlenkombinationen. Vor kurzem erst stand er vor einem Geldautomaten und wusste die Geheimzahl nicht mehr. Gott sei Dank hatte er nicht auch noch vergessen, wo — in weiser Voraussicht — der Zettel mit dem Code versteckt war.
     
    Chris knurrte der Magen, als sie bei einem Italiener am Neumarkt Halt machten, um zu Abend zu essen. Er streckte die langen Beine unter den Tisch und seufzte erleichtert. Nichts als brennende Füße bekam man von der Pflastertreterei. Andererseits war es ganz nett gewesen, mal etwas anderes als die kleinen Vorstadtgeschäfte zu sehen. Obwohl ihn der Blick in die Schaufenster der Juweliere regelmäßig frustriert hatte. Schöne Uhren waren nun mal seine Schwäche. Wobei er schön mit schlicht gleichsetzte. Rund, möglichst flach, dezentes Zifferblatt, kein Schnickschnack — so hatte eine Uhr für ihn auszusehen. Aber sein Geschmack schien nicht mit der momentanen Mode übereinzustimmen. Es gab offenbar nur noch zentimeterdicke Chronometer mit Funktionen, die kein Mensch brauchte. „Kartoffeln“, wie er sie im Stillen nannte.
    Kurz darauf machten sie sich mit Heißhunger über ihre Salatteller her, und er vergaß schmerzende Füße und hässliche Uhren.
    Karin suchte zwischen Tomaten und Paprikastreifen nach den Oliven und fragte unvermittelt: „Bringen uns die Lakritzschnecken nun weiter?“
    Er brauchte einen Moment, um von Salat mit gebratener Putenbrust auf Claudia umzuschalten.
    Dann gab er zu: „Ich weiß es nicht. Es ist eine Möglichkeit. Aber nur weil die Tüte aus Gremberg stammt, muss er da nicht

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