Mantelkinder
endlich am Gremberger Wäldchen waren, um den Rat von Grete Horn zu befolgen.
„Fahren Sie zum Tatort“, hatte sie gesagt. „Nehmen Sie sich Zeit, sehen Sie sich um. Spüren Sie die Umgebung. Wenn Sie erkennen, was ihn an diesen Ort fesselt, erkennen Sie den Täter.“
Also war Chris von den Horns gleich ins Labor gefahren, um Karin abzuholen. Er wollte die Fotografin dabeihaben, die Frau, die so vieles mit anderen Augen sah.
Susannes Beschreibung war noch genau in seinem Kopf. „Am westlichen Ende, genau in der Senke zum Bahndamm.“ Trotzdem landete er auf dem östlichen Parkplatz. Er war nun mal auf die linke, die „richtige“ Seite des Rheins fixiert — wie so viele andere Kölner auch — und kannte das Rechtsrheinische, die „Schäl Sick“, fast nur vom Hörensagen. Die wirklich „wichtigen“ Dinge im Stadtleben befanden sich nun mal auf der linken Rheinseite: Dom Philharmonie, Museen, die großen Fußgängerzonen, Uni und das entsprechende Studentenviertel. Und auch die Stadtteile, wo die Leute mit üppigem Einkommen lebten, lagen auf „seiner“ Seite.
Er hatte sich gerade mal den Weg ins Präsidium eingeprägt, aber ansonsten blieb das Rechtsrheinische für ihn ein weißer Fleck auf der Landkarte. Als er seinen Fehler bemerkte, wollte er umdrehen, aber Karin bestand darauf, das Gelände zu Fuß zu durchqueren. Sie war nun mal für ihr Leben gern draußen und ging spazieren. „Das, was man am schlechtesten kann, tut man immer am liebsten“, hatte sie mal zu ihm gesagt.
Es war ein trüber Tag, wolkenverhangen und kalt. Braune, glitschige Blätter bedeckten die aufgeweichten Wege. Hoch über ihnen keckerte ein Eichelhäher seinen Warnruf und ein paar Amseln stöberten dick aufgeplustert durchs Unterholz. Ihr Anblick deprimierte Chris genauso wie die kahlen Bäume. Da konnte er sich noch so oft vorbeten, dass es ohne Winter nie dieses köstliche Gefühl des Frühlings geben würde. Er hasste diese Jahreszeit. Missmutig stapfte er neben Karin her, den Mantelkragen hochgeschlagen und den dunkelblonden Schopf tief zwischen die Schultern gezogen.
Karin hingegen schien diesen unerwarteten Spaziergang zu genießen. Die Kieselaugen leuchteten, nahmen jede Kleinigkeit in der näheren Umgebung in sich auf. Sie war entzückt über eine Schar Dompfaffen, die — für sein Empfinden — trübsinnig in den Büschen hockten, fand am Wegesrand die trockene Blüte einer armseligen Diestel und lächelte, als sie mehrere Tannenzapfen sah, die von Eichhörnchen abgenagt worden waren.
„Schau“, sagte sie mit einem Mal und Chris dachte, sie hätte das nächste spätherbstliche Wunder entdeckt. Aber sie deutete auf ein Stück weiß-rotes Plastikband, das schlaff über einem Gebüsch hing. Mit Mühe entzifferte Chris das Wort „Polizeiabsper…“ darauf.
Entschlossen schwang Karin sich auf ihren Krücken weiter, tauchte zwischen den Bäumen ein und tastete sich über die feuchten Blätter vorsichtig den Hang hinunter.
Chris folgte etwas langsamer. Die Leute der Spurensicherung hatten zerwühltes Laub, tiefe Furchen und abgeknickte Äste hinterlassen. Am Fuß der Senke sah es aus, als hätte eine Rotte Wildschweine nach Eicheln gesucht. Das nervtötende Rauschen der Autobahn übertönte hier die normalen Geräusche des Waldes. Ein Zug donnerte rechts über ihnen vorbei, und er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte.
Warum hatte er es ausgerechnet hier getan? Die Gefahr, dass er entdeckt wurde, war groß gewesen. Hier trieben sich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch verspätete Hundebesitzer, Liebespärchen oder Junkies herum. Wieso hatte er nicht eine zehnminütige Autofahrt auf sich genommen und die undurchdringlichen Dickichte des Königsforsts oder der Wahner Heide gewählt? Da wäre sogar der Leichnam für Wochen, Monate oder gar Jahre verschwunden geblieben. Stattdessen führte er die Tat beinahe auf dem Präsentierteller aus. War es das? Gab ihm seine Waghalsigkeit noch den zusätzlichen Kick? Dann hätte er jedoch genauso gut den Stadtwald oder den Grüngürtel nehmen können, die lagen viel näher an dem Punkt, an dem er Claudia aufgelesen hatte.
Aber er wählte genau die Stelle, wo er auch mit Nadine immer gewesen war. Wohnte er also hier in der Nähe? Hielt er Claudia über mehrere Stunden in seiner Wohnung fest, bevor er das tat, was er tun wollte? Denkfehler, Sprenger! Wieso missbrauchte er sie nicht zu Hause? Das wäre bequemer, gemütlicher und wärmer gewesen.
„Ein
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