Mantelkinder
und schlich aus dem Zimmer. Innerlich atmete Chris erleichtert auf. Hoffentlich stand diese Karikatur von Mann nicht bald schon wieder unter einem Vorwand im Rahmen.
Die alte Frau starrte mit gerunzelter Stirn auf die Tür, hinter der ihr Sohn verschwunden war. „Er ist ein Narr!“, sagte sie hart.
„Er war ein guter Richter.“
Margarethe Horn hob eine Augenbraue. „Wenn Sie meinen.“
„J … ja“, stotterte Chris verunsichert. Wie immer flößte ihm Professor Doktor Margarethe Horn, Ärztin der Psychiatrie und ehemalige Leiterin der forensischen Klinik Bedburg, gehörigen Respekt ein. Schon während des Studiums hatten ihn ihre Fachaufsätze über psychisch kranke Straftäter beeindruckt. Später lernte er Walter Horn kennen und auf einer Geburtstagsfeier auch dessen Mutter. Ungefähr ein Jahr darauf musste er einen Mann verteidigen, der mehrere Frauen vergewaltigt haben sollte und konnte sich einfach nicht in ihn hineindenken — bis die Professorin ihm die perfekte Charakteristik lieferte. Seitdem war seine Achtung vor ihr noch gestiegen.
„Nun denn. — Jetzt ist er jedenfalls ein Narr! So, mein Lieber, und nun gießen Sie uns mal Kaffee ein. Mit dem Kopf klappt es zwar noch, aber die Hände tun manchmal nicht mehr, was ich ihnen sage. Und nehmen Sie dieses abscheuliche Kissen aus Ihrem Rücken. Das bringt Sie ja um!“
Chris kam dem Befehl unverzüglich nach. Erst der Kaffee, danach das Kissen.
Ein auffordernder Blick und er setzte an: „Frau Professor Horn …“
„Ach, hören Sie auf!“, wurde er sofort unterbrochen. „Grete reicht völlig. Professor Horn ist vor beinahe zwanzig Jahren in Pension gegangen. Außerdem könnten Sie mir eine Zigarette anbieten. Der Arzt hat´s zwar verboten, aber wenn Sie mir eine aufdrängen, kann ich ja wohl nicht nein sagen, oder?“
Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu, und Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er die Packung aus der Innentasche seines Sakkos kramte und noch einmal begann. „Also, Grete …“
Er schilderte ihr den Mord an Claudia Seibold in allen Einzelheiten und legte ausführlich alle ermittlungsrelevanten Details dar. Seine Befangenheit war dabei schnell verflogen. Zwischendurch hatte die alte Frau Stift und Block geholt und schrieb eifrig mit.
Als Chris seinen Bericht beendet hatte, paffte sie ihre zweite Zigarette und sah sich ihre Notizen aufmerksam an.
„Wenn Sie die Familie vertreten, ist das sicher sehr belastend für Sie“, sagte sie ernst. „Geht es Ihnen darum? Brauchen Sie persönlich meine Unterstützung? Oder geht es Ihnen um den Täter?“
„Ich komme damit klar“, versicherte Chris schnell. „Ich will nur, dass er so schnell wie möglich gefasst wird. Und vielleicht hilft es mir, wenn ich ihn verstehe.“
Sie nickte. Ihr hellwacher Blick schweifte einen Moment lang über die Keksschale zwischen ihnen, ehe sie sich straffte und ihm direkt in die Augen sah.
„Gut! Dann sehen wir uns doch mal einen klassischen Triebtäter an. Wir unterscheiden grundsätzlich drei Varianten. Zum ersten hätten wir da die Sadisten, die ihre Gewalttaten oft über Jahre in der Phantasie durchspielen. Sie stellen sich vor, ihre Opfer zu quälen, zu foltern, und das beschert ihnen sexuelle Befriedigung. Nach einer Weile reicht die Phantasie jedoch nicht mehr. Der Kick ist weg. Also suchen sie sich ein reales Opfer und inszenieren alles so, wie es schon lange in ihrer Vorstellung gewesen ist. Dabei empfinden viele einen wahren sexuellen Rausch. Jürgen Bartsch zum Beispiel hatte einen Dauerorgasmus, als endlich wirklich Blut floss.“
Chris verzog angewidert das Gesicht. Aber Grete Horn sprach ungerührt weiter. „Bei der zweiten Variante ist die jahrelange Vorbereitung ähnlich und natürlich auch das katastrophale Endergebnis. Aber das Motiv ist ein anderes: Hier geht es dem Täter nicht so sehr um Sexualität im engeren Sinne, sondern um Kontrolle. Um Macht, vollkommene Macht. Und was ist mächtiger als sexuelle Kontrolle über jemanden?
Last but not least hätten wir noch den situativ mordenden Täter, der aus einer Krisensituation heraus handelt. Er muss angestaute Aggressionen abbauen und sucht dafür spontan nach einem Opfer.“
„An unserem Mann war nichts Spontanes“, warf Chris ein und rührte länger in seinem Kaffee als nötig.
Grete nickte nachdenklich. „Richtig. Und ich denke, auch die erste Variante können wir ausschließen. Er hat Claudia nicht im klassischen Sinn gefoltert, sie nicht
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