Mantelkinder
fachkundigen Rat er jetzt einholen wollte.
Um jedoch zu ihr vorzudringen, kam er an Walter Horn nicht vorbei. Und genau das war das Problem. Er war ein kompetenter und manchmal auch strenger Richter gewesen, von dem niemand angenommen hätte, er könnte schwul sein. Als er in Pension ging und wohl der Meinung war, dass er seine Autorität nicht mehr demonstrieren musste, verwandelte er sich in eine Schwuchtel, die ihresgleichen suchte. Und jedes Mal, wenn Walter Horn Doktor Christian Sprenger begegnete, führte er sich auf wie ein verliebter Dackel. Er machte ihm die haarsträubendsten Komplimente, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab, hing schmachtend an seinen Lippen, schob Hocker heran, damit Chris die Beine hochlegen konnte und verschüttete vor lauter Aufregung den Kaffee.
Diese Hätschelei ging Chris furchtbar auf die Nerven und er vermied den Kontakt mit Horn so gut es ging, auch, weil er dessen fruchtlose Hoffnung nicht noch schüren wollte.
Der kleine Garten vor dem Haus wirkte überaus gepflegt. Auf den Blumenrabatten lag frischer Rindenmulch und die Rasenkanten waren sauber abgestochen. Auf dem Rasen selbst lag nur eine Handvoll gelber Blätter, die die Pflaumenbäume des Nachbargrundstücks abgeworfen hatten.
Chris ging über den grauen, sauber gefegten Plattenweg zur Haustür und wappnete sich. Nur Sekunden, nachdem er geklingelt hatte, wurde die Tür aufgerissen. Horns rundes Gesicht strahlte wie ein praller Vollmond.
„Ihr Anruf vorhin ließ die Sonne aufgehen!“, rief er gekünstelt. „Herein, mein Lieber, herein!“ Er fasste Chris an beiden Händen und zog ihn ins Haus. Dann nahm er ihm den Mantel ab, strich ihn glatt und hängte ihn umständlich auf einen Bügel.
Chris nahm sich Zeit für eine ausgiebige Studie. Horn trug ein pinkfarbenes Hemd mit leicht gepufften Ärmeln und einer extrem schmalen schwarzen Lederkrawatte darauf. Seine Beine steckten in engen Röhrenjeans, seine Füße in nietenbeschlagenen Westernstiefeln. Auf andere schwule Männer könnte er wahrscheinlich attraktiv wirken, Chris fand seinen Aufzug nur lächerlich.
Endlich war Horn mit dem Mantel fertig und wandte sich wieder Chris zu. „Ich habe den Kaffee fertig, mein Lieber. Möchten Sie vielleicht bequeme Hausschuhe?“
Nein, Chris wollte keine Hausschuhe.
„Oder eine Strickjacke, falls Ihnen kühl ist?“
Er wollte auch keine Strickjacke. Er wollte Margarethe Horn.
Der ehemalige Richter bugsierte ihn in ein mit dunklen Möbeln vollgestopftes Wohnzimmer und drückte Chris in den — seiner Meinung nach — bequemsten Sessel. Der Tisch war mit einer hellen Häkeldecke belegt und zum Kaffee gedeckt — für drei.
„Sie sehen mal wieder phantastisch aus!“, rief Horn entzückt und klimperte mit den Lidern.
Was für ein Idiot! Chris war drauf und dran, die Augen zu verdrehen. Er überging die Bemerkung und fragte nach Horns Mutter.
„Natürlich, natürlich. Ich hole sie. Selbstverständlich.“
Chris atmete erleichtert auf, als Horn zur Tür hinausgetänzelt war.
Für einen Moment stahl sich die Sonne durch die Wolken und die plötzliche Helligkeit machte deutlich, dass die Horns offenbar keinerlei Wert auf ein gepflegtes Ambiente legten. Das Zimmer wirkte ausgesprochen schäbig. Der rot-grüne Teppich zeigte deutliche Abnutzungsspuren, an einer Stelle schimmerte schon der Stramin durch. Die aus den Fünfzigern stammenden Möbel waren zerkratzt und abgestoßen, und die ehemals weißen Wände hatten gelbe Nikotinschlieren.
Chris dachte noch über eine halbwegs höfliche Formulierung nach, mit der er klarmachen konnte, dass er mit Margarethe Horn, dieser großartigen alten Dame, allein reden wollte, als der Sohn schon wieder ins Zimmer gehüpft kam wie ein Gummiball. Seine Mutter folgte langsamer.
Sie ist kleiner geworden, dachte Chris beinahe erschrocken. Aber sie hielt sich immer noch sehr aufrecht und ihr Händedruck war fest wie eh und je. Lächelnd sah sie Chris mit hellwachen, stahlblauen Augen an.
„Es tut gut, Sie zu sehen“, sagte sie mit erstaunlich tiefer Stimme.
Walter Horn führte ihn zurück zu seinem Sessel, drückte ihn nieder und stopfte ihm ein schrecklich unbequemes Kissen in den Rücken. Die alte Dame ließ sich gegenüber auf der abgewetzten grünen Couch nieder und musterte Chris sehr aufmerksam.
Dann sagte sie, ohne den Blick von ihm zu nehmen: „Lass uns allein, Walter.“
„Aber …“
„Lass uns allein, Walter!“ Eine Spur schärfer, dieses Mal.
Horn zog den Kopf ein
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