Mantelkinder
ausdrücklich Wolfgangs Wunsch gewesen, und als sich der mächtige Sopran erhob, begann er, hemmungslos zu schluchzen.
Eine lange, langsame Prozession begleitete den kleinen weißen Sarg schließlich nach draußen. Chris erinnerte sich plötzlich an ein Lied von Bettina Wegner, in dem es um kleine Hände ging, auf die man nie schlagen, um kleine Füße, auf die man niemals treten durfte. Und er dachte an Claudias Mörder. An all die anderen Kinder, die ein ähnliches Schicksal erlitten hatten. Ermordet von Menschen, denen man in ihrer eigenen Kindheit so oft auf die Finger geschlagen und auf die Zehen getreten hatte, dass sie als Erwachsene weder mit ihrem Sexualtrieb, noch mit ihren Phantasien umgehen konnten. Auch das hatte ihm Grete Horn sehr deutlich vermittelt. Niemand wurde aus heiterem Himmel zum Triebtäter. Das überfiel einen nicht wie Grippe, sondern hatte seinen Ursprung immer in der Kindheit. Nach Meinung der alten Professorin wurde keiner zum Triebtäter, der nicht selbst in seiner Jugend Opfer körperlicher oder seelischer Misshandlungen gewesen war.
Chris war so in Gedanken, dass er sich plötzlich draußen wiederfand, gleich hinter den engsten Familienangehörigen, die auf der obersten Treppenstufe standen. Am Fuß der Treppe wartete der dunkle Wagen des Beerdigungsinstituts, rund um den Vorplatz war eine Polizeiabsperrung, dahinter reckten sich Hände mit Kameras, Fotoapparaten und Mikrofonen hoch.
Es war ein furchtbarer Moment, als der Sarg in das Fahrzeug geschoben wurde. Chris wurde übel bei dem Gedanken, dass in drei oder vier Stunden von Claudia nur noch ein Häuflein Asche übrig sein würde.
„Pass auf dich auf, Kleines“, murmelte eine große Frau, die rechts von ihm stand. Gleichzeitig stieg ihm ein merkwürdiger Geruch in die Nase, von dem er nicht hätte sagen können, was es war. Er kannte ihn und auch wieder nicht. Seltsam und doch vertraut.
Wolfgang und Monika standen eng umschlungen vor ihm. Die Großeltern flankierten die Zwillinge. Alle hatten sich bisher tapfer gehalten. Als aber der dunkle Wagen langsam vom Platz fuhr, schluchzte Monika laut auf und rief: „Oh mein Gott! Sie ist jetzt so allein da oben!“
Mittwoch, 14. November
Petra Hansen wirkte völlig unaufgeregt, als sie Susanne gleich in der Früh um ein Gespräch bat und auch Hellwein und die Staatsanwältin dabeihaben wollte.
Dennoch spürte Susanne die Nervosität der jungen Kollegin, als sie alle um Hellweins Schreibtisch versammelt waren und wurde selbst kribbelig. Sie hatten kein Wort über ihre stille Absprache von Samstag verloren, aber sie war davon ausgegangen, dass Hansen ihre Idee weiterverfolgte. Und dieses Acht-Augen-Gespräch konnte nur bedeuten, dass sie etwas Wichtiges entdeckt hatte. Etwas, das nicht in die Abendlage gehörte oder nicht so lange warten konnte.
Susanne zog sich ihren Schreibtischstuhl heran, stellte ein Bein darauf und stützte sich auf dem Oberschenkel ab. Wie immer, wenn sie angespannt war, konnte sie sich nicht einfach hinsetzen. Im Gegensatz zu Marlene Breitner, die lässig ihre kurzen Beine übereinandergeschlagen hatte und ihren — wie immer — dunkelblauen Rock in aller Seelenruhe zurechtzupfte. Endlich schien sie mit dem Ergebnis zufrieden und nickte Hansen aufmunternd zu.
„Es ist Folgendes“, begann die junge Kommissarin und klappte ihren Notizblock auf. „Ich hab mir Gedanken gemacht über den Fiesta. Wir alle wissen, dass der Fahrer nicht unbedingt auch der Halter des Fahrzeugs sein muss. Und ich dachte mir, dass man diesen Punkt der Ermittlungen effizient und kostensparend angehen könnte. Deshalb habe ich mir alle relevanten Daten an Land gezogen und mit unseren bisherigen Erkenntnissen und Vermutungen korreliert.“
Die kleine Staatsanwältin hob die Hand. „Sie suchen doch den Roller. Wieso hat sich Schneider nicht darum gekümmert?“
Hansen lief rot an und begann hektisch, ihre Hosennaht zu kneten. „Ich hatte mit Hauptkommissar Schneider darüber geredet“, murmelte sie.
„Und?“ Breitner sah sie über den Rand ihrer Lesebrille streng an.
„Er hat gesagt, ich soll mich gefälligst um meinen Müll kümmern und ihn in Ruhe lassen.“
„Dieses Arschloch!“, platzte Hellwein heraus.
„Aber, er …“ Hansen senkte peinlich berührt den Blick. „Es ist doch überall so, dass junge Kollegen runtergemacht werden.“
„Ja, und das ist schon schlimm genug“, sagte Susanne grimmig. „Viel entscheidender ist jedoch, dass er Ihre Idee
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