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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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geschnitten oder verstümmelt.“
    „Bleibt also die Machtvariante“, stellte Chris fest und legte endlich den Kaffeelöffel zur Seite. Gleich darauf schüttelte er den Kopf. „Aber wie passt der Straßenstrich da rein? Dort lässt er sich quälen. Die Mädchen sagen ihm, was für ein mieses Schwein er ist, sie verweigern sich …“
    Er erkannte seinen Denkfehler und hielt inne. Natürlich: Sie mussten sich verweigern, eng sein. Und er hatte die Macht, sie trotzdem zu besitzen, die Macht, in sie einzudringen.
    „Verstanden?“ Grete lächelte.
    „Verstanden.“
    „Gut. Bei unserem Mann hier spielt noch etwas anderes hinein. Er wird als pedantisch, rosig und geduckt beschrieben. Für ihn ist Sex mit Sicherheit etwas Böses und Schmutziges. Er lebt seine Machtphantasien zwar in der Realität aus, aber seine Befriedigung ist gleichzeitig Bestrafung, weil er etwas Sündhaftes tut, etwas Schlechtes, mit ebenso sündhaften und schlechten Nutten. Und schließlich trifft er Claudia. Die Gute. Sauber, unschuldig.“
    „Er wäscht sich also rein?“, fragte Chris und schluckte. Gab es etwas Perverseres?
    „Sozusagen. Ich glaube jedoch nicht, dass es ihm in erster Linie um ein Kind als solches ging.“
    „Sondern?“
    „Ich meine Folgendes: Hätte er eine erwachsene Frau mit diesen Vorzeichen, sprich Reinheit und Unschuld gefunden, hätte er sich an ihr vergangen und nicht an einem Kind.“
    „Hätte er sie auch umgebracht?“
    „Hätte eine solche Frau freiwillig mit ihm geschlafen? Ob Claudia oder eine Frau, er musste töten, um nicht entdeckt zu werden und dabei wird er nicht die Spur Reue empfunden haben. Psychopathen kennen keine Gefühle für andere.“
    Nachdenklich trank Chris seinen Kaffee aus. Dann sagte er: „Er lernt also Claudia kennen, erkennt die Möglichkeit, sich von allen Sünden zu befreien und trifft seine Vorbereitungen.“
    Grete wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Vielleicht. Ich denke aber eher, er kannte Claudia schon länger, ohne dass er Ambitionen hatte. Irgendein Auslöser hat erst zu seinen Planungen geführt. In der Psychologie nennen wir das Initialzündung. Sie steht oft in einem engen zeitlichen Bezug zur Tat, geht aber meistens nicht vom späteren Opfer aus. Bis zu dieser Initialzündung war es ihm wahrscheinlich gar nicht so wichtig, sich reinzuwaschen, weil dieser Wunsch von anderen Dingen abgepuffert wurde. Der Puffer fällt weg und … bumm!“ Grete begleitete ihre Worte mit einer ausladenden Geste.
    „Eine Initialzündung kann alles sein“, setzte sie hinzu, „Erinnerungen oder Ereignisse, die Kindheitstraumen an die Oberfläche schwemmen, seelische Erschütterungen wie zum Beispiel der Tod eines nahestehenden Menschen.“
    Nadine hatte gesagt, Rudolf wäre schon drei oder vier Wochen nicht mehr bei ihr gewesen, erinnerte sich Chris. Der Zeitpunkt der Initialzündung?
    „Wie wird ein Mensch zum Psychopathen, zum planvollen Mörder?“, fragte er.
    „Tja, daran scheiden sich die Geister. Es gibt Kollegen, die von einer genetischen Disposition ausgehen. Ich neige eher zu der Meinung, dass im Umfeld dieser Menschen ziemlich viel schief gegangen ist.“
    Grete erklärte ihm die sogenannten „sieben Verlaufsphasen“, die mit frühkindlichen Traumata begannen und schließlich in der Tat mündeten. Als sie fertig war, versuchte Chris, das alles zu sortieren, so zu verpacken, dass er halbwegs die Mechanismen eines kranken Hirns nachvollziehen konnte. Dabei fiel ihm etwas auf.
    „Sie haben von sieben Verlaufsphasen gesprochen“, sagte er mit gerunzelter Stirn, „wir haben aber erst sechs.“
    „Richtig“, antwortete Grete langsam und die stahlblauen Augen wurden eine Nuance dunkler. Sie zögerte einen Moment, ehe sie erklärte: „Die siebte ist die Wiederholungsphase.“
    „Sie meinen …“
    Sie griff über den Tisch und legte ihre knotige, von Altersflecken übersäte Hand auf seinen Arm. „Seine exzellente Planung und die vollkommene Umsetzung machen mich ernsthaft besorgt. Seine Pedanterie hat wahrscheinlich krankhafte Züge — typisch für Menschen, die nicht gerade vor Selbstbewusstsein strotzen. Sein perfekt ausgeführter Plan muss ein enormes Erfolgserlebnis für ihn gewesen sein. Das wird ihn noch zusätzlich befriedigt haben.“
    Sie ließ seinen Arm los und setzte mit Nachdruck hinzu: „Er wird diesen Erfolg wiederholen wollen.“
    Chris hatte plötzlich einen gallebitteren Geschmack im Mund.
     
    Es war schon früher Nachmittag, als Karin und er

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