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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Aufgebot angerückt, um die Trauernden vor den Medienvertretern zu schützen. Sie gingen diskret vor, schafften es aber, Kameras und Mikrofone so weit zurückzudrängen, dass eine Aufnahme kaum lohnte.
    Flankiert von Chris und ein paar Beamten in Zivil betrat die Familie die Kirche durch einen Nebeneingang. Als sie in den ersten beiden Reihen Platz nahmen, wollte er sich zurückziehen, aber Monika Seibold bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, dass sie ihn in der Nähe haben wollte. Also drückte er sich in die Bank hinter ihr und griff sich die Blätter mit den kopierten Liedtexten, die vor ihm lagen, nur, damit er etwas in der Hand hatte.
    Über den Liedern war der Vorsatz der Todesanzeige gedruckt, den die Seibolds gewählt hatten. Es war eine Strophe aus dem Eichendorff-Gedicht „Auf meines Kindes Tod.“
    „Und was weint ihr, Vater und Mutter, um mich?
    In einem viel schöneren Garten bin ich,
    Der ist so groß und weit und wunderbar,
    Viel Blumen stehn dort vom Golde klar,
    Und schöne Kindlein mit Flügeln schwingen
    Auf und nieder sich drauf und singen.“
    Es sollte wahrscheinlich etwas Tröstliches haben. Für Chris jedoch hatten die Sätze etwas sehr Endgültiges und er fühlte sich plötzlich noch unwohler in seiner Haut als sowieso schon. Es schnürte ihm einfach die Kehle zu, sich von einem sechsjährigen Kind verabschieden zu müssen.
    Susanne und Hellwein, die im linken Seitengang standen und zu ihm herüberwinkten, lenkten ihn kurzzeitig ab. Sicher wollten die beiden mit ihrer Anwesenheit ein Stück Anteilnahme ausdrücken. Aber Chris wusste, dass sie gleichzeitig nach einem Mann Ausschau hielten, auf den die Beschreibung von Nadine passte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Täter zur Beerdigung oder Trauerfeier seines Opfers kam. Sei es aus reinem Voyeurismus, sei es aus Reue.
    Chris grüßte zurück und war zunehmend irritiert. Die Kommissarin war beim Frisör gewesen. Und sie hatte sich das Haar nicht „irgendwie“ schneiden lassen, sondern trug einen feschen Kurzhaarschnitt, den sie mit Gel in Form hielt. Außerdem hatten ihre dunklen Hosen Bügelfalten und sie trug die farblich passenden Schuhe — frisch geputzt. Und da war noch etwas, aber er kam einfach nicht drauf.
    Das helle Bimmeln eines Glöckchens riss ihn aus seinen Betrachtungen. Ein junger, rundgesichtiger Pfarrer mit Schnäuzer und Nickelbrille trat hinter den weißen Sarg, der vor dem Altar stand. Dieser so verdammt kleine Sarg, der beinahe unterging in einem Meer aus Blumen.
    Gott sei Dank hielt der Geistliche keine Messe. Er versuchte einfach, in kindgerechten Worten zu erklären, warum Menschen sterben mussten. Er redete auch nicht von Auferstehung und dem Heiligen Geist, sondern vom Weiterleben im Himmel und bezog sich dabei auf den Vorsatz der Todesanzeige. Es waren tröstende Worte, die selbst Chris, der alles andere als bibelfest und gottesfürchtig war, akzeptieren konnte.
    Als die Menschen um ihn herum „So nimm denn meine Hände“ anstimmten, schweiften seine Gedanken ab. Zu dem langen Gespräche mit Grete Horn, zu der Tour durch Gremberg. Zwei Stunden waren sie noch in dem Viertel herumgefahren, zu den Kleingärten, zum Autobahnzubringer, zur Mülldeponie. Außer einer Erweiterung seiner Ortskenntnisse hatte ihn das keinen Schritt weitergebracht. Und wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass er etwas übersehen hatte, dass die Lösung eigentlich ganz einfach war? Was war das, zum Teufel?
    Er fand erst wieder zurück in die Gegenwart, als der Gesang verstummte und der Pfarrer alle aufforderte, sich in Gedanken von Claudia zu verabschieden. Hinter Chris stand ein zierliches rothaariges Mädchen auf, ging durch den Mittelgang nach vorn und legte eine weiße Nelke auf die unterste Altarstufe. Es war Anja Schmidt, Claudias Banknachbarin und beste Freundin.
    Diese Geste war so rührend, dass viele der Anwesenden die Taschentücher zückten, und auch in der Kehle von Chris wurde es verdammt eng. Plötzlich wünschte er sich Karin an seiner Seite, ihre große warme Hand in der seinen.
    Nach Minuten der Stille las der Pfarrer Claudias Lieblingsgeschichte vor, ein kurzes Stück vom „kleinen Sams“. Es war eine lustige Geschichte, und er sprach die Passagen von „Herrn Taschenbier“ und „Frau Rotkohl“ mit so herrlich verstellter Stimme, dass viele Kinder unterdrückt kicherten. Claudia hätte es sicher gefallen.
    Das Schlusswort überließ er Jessye Norman, deren „Ave Maria“ er vom Band laufen ließ. Das war

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