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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Scheißplatz zum Sterben, nicht?“, sagte Karin leise und trat neben ihn.
    Eine Sekunde später donnerte der nächste Zug über ihnen vorbei, und Chris wurde klar, dass sie mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Obwohl das Gremberger Wäldchen nicht groß war, gab es lauschige, versteckte Ecken. Claudias Mörder hatte die lauteste und unruhigste Stelle gewählt, die es im weiten Umkreis gab. Warum, zum Teufel? Und was war mit den Möhren, die hier gelegen hatten? Ob sie überhaupt mit der Tat in Zusammenhang standen? Vielleicht hatte jemand sie ja einfach aus dem Zugfenster geworfen. Aber wer warf schon Möhren aus einem Zug?
    Chris wollte aufgeben und wieder nach oben steigen. Er hatte keinen Schimmer, was dieser Ort ihnen verraten sollte. Karin jedoch kapitulierte nicht so schnell. Sie stocherte noch eine ganze Weile gedankenverloren mit ihrer rechten Krücke zwischen dem nassen Laub herum und drehte sich mehrfach um die eigene Achse. Sie nahm alles in sich auf, jeden Zweig, jede Borke. Es schien fast, als schösse sie ein Foto nach dem anderen, die sie dann wohlgeordnet in ihrem Kopf ablegte.
    Nach einer Weile war es selbst ihr genug. Mehr, als dass es eine hässliche Bodensenke zwischen Autobahn und Bahntrasse war, sah auch sie nicht. Der Weg nach oben war für sie eine schweißtreibende, anstrengende Prozedur. Die nassen, glitschigen Blätter, der steile Hang, auf dem die Krücken in Verlängerung mit ihren Armen zu lang waren. Sie konnte sich nur seitlich Schritt für Schritt nach oben quälen.
    Als sie endlich wieder auf dem Weg waren, standen dicke Schweißperlen auf ihrer Stirn und Chris steuerte zielstrebig die nächste Bank an, die in Sichtweite war.
    „Puh, ich glaube, ich werde alt“, schnaufte Karin und ließ sich umständlich auf der Bank nieder. „Vor zehn Jahren hab ich das mit links … Scheiß!“
    Eine Krücke war ihr aus der Hand gerutscht und schlidderte ein Stück den abschüssigen Weg entlang. Als Chris sie aufhob und an die Bank lehnte, grinsten sie sich in stillem Einverständnis an. Am Anfang ihrer Beziehung war es für sie beide schwer gewesen, das richtige Maß für Hilfe geben und Hilfe annehmen zu finden. Inzwischen hatte Chris seine übertriebene Fürsorge abgelegt und Karin ihre Verbissenheit, alles und jedes allein bewältigen zu wollen. So gab es nur noch selten Situationen, in denen ihre Auffassungen gegensätzlich waren. Eine weggerutschte Krücke, die nur unter Schwierigkeiten zu erreichen war, gehörte nicht mehr dazu.
    Schweigend rauchten sie eine Zigarette und hingen ihren Gedanken nach. Bis Karin plötzlich den Kopf schüttelte und in die Stille hinein sagte: „Es ergibt keinen Sinn. Diese Stelle ergibt keinen Sinn.“
    „Stimmt“, antwortete Chris. „Besser gesagt: Wir verstehen die Bedeutung nicht. Wer weiß, was in seinem verqueren Hirn vorgeht. Da kommt man wahrscheinlich mit gesundem Menschenverstand nicht weiter.“
    „Hm“, brummte Karin unzufrieden. „Und jetzt?“
    „Jetzt? Ich will nach Hause und ins Warme.“
    Aber sie schüttelte den Kopf. „Lass uns noch ein bisschen durch die Gegend fahren.“
    „Was soll das bringen?“ Er hatte seine Couch und einen doppelten Whisky vor Augen.
    „Vielleicht denken wir falsch. Vielleicht gibt es hier in der Umgebung etwas, was ihn so magisch anzieht.“
    „Karin, bitte. Ich bin ein Eiszapfen.“
    „Na, komm schon!“ Sie zog sich an ihren Krücken hoch uns sah ihn auffordernd an, voller Energie und Tatendrang.
    „Es bringt nichts, Liebes.“
    „Und wenn doch?“
    „Du bist der größte Dickschädel, der mir je untergekommen ist“, maulte Chris, erhob sich jedoch ebenfalls.
    Karin legte die Stirn in Dackelfalten und entgegnete mit treuherzigem Augenaufschlag: „Nach dir selbstverständlich.“
    Er gab sich geschlagen und küsste sie. Wer konnte einem Dackel mit blaugrauen Kieselaugen schon widerstehen?
     

Dienstag, 13. November
     
    Für die Seibolds hätte Chris sich eine weniger öffentliche Trauerfeier gewünscht. Aber er sah auch ein, dass sich Claudias Schulkameraden angemessen von ihr verabschieden mussten, damit sie mit ihrem Tod umgehen konnten. Trotzdem war er beinahe geschockt, als er sah, wie viele Menschen sich in der Nikolauskirche drängten. Etwa hundertfünfzig Kinder waren gekommen, Anteil nehmende Eltern, Nachbarn, Lehrer, Freunde und Verwandte. Viele Leute mussten sogar auf dem Vorplatz bleiben, weil das Gotteshaus völlig überfüllt war.
    Die Polizei war mit großem

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