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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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blauzuschlagen.
    Stattdessen sah sie Schneider unterkühlt an, als er Ballmann abführen wollte. „Schneider! Ich möchte nicht, dass er nochmal hinfällt. Ist das klar?“
    Er spuckte seinen Kaugummi in hohem Bogen über eine niedrige Hecke bis in eine gepflegt aussehende Rosenrabatte. Dann nickte er.
    Zu viert machten sie sich auf den Weg zu Ballmanns Wohnung. Hellwein schloss die Tür im zweiten Stock auf und ging als erster hinein, dicht gefolgt von Susanne. Müller ließ Hansen den Vortritt und fuhr sich zum wiederholten Mal mit beiden Händen durch die Locken.
    Sie drängten sich alle in einer quadratischen und völlig schmucklosen Diele, von der vier Türen aus hellem Holz abgingen. Gegenüber der Wohnungstür schloss sich noch ein schmaler Flur an.
    Hellwein wollte die Tür öffnen, die ihm am nächsten war, stand aber plötzlich wie angewurzelt, zog witternd die Luft ein. „He, Moment mal“, murmelte er und trat, als ob er am Faden gezogen würde, langsam in den zweiten Flur.
    Jetzt roch Susanne es auch. Sie merkte, wie sich ihr Nackenhaar sträubte, folgte Hellwein jedoch. Hinter ihr war Hansen.
    Der Gestank kam eindeutig aus dem Zimmer am Ende des engen Durchgangs. Hellwein holte tief Luft, öffnete die Tür, sah kurz hinein und schlug sie gleich wieder zu.
    „Gottverdammte Scheiße!“, fluchte er zwischen den Zähnen hindurch. Sein Gesicht hatte einen grünlichen Schimmer angenommen. „Ich glaube, damit kann unser Pathologe besser umgehen!“
    Hansen drängte sich an ihnen vorbei, und ehe sie es verhindern konnten, machte sie die Tür auf. Sie blieb, zwei, drei Sekunden reglos stehen, dann rannte sie würgend ins Treppenhaus.
    „Hab ich doch gesagt“, brummte Hellwein.
     
    ********
     
    Chris war schweigsam, als sie von Luise aus zu ihrer ersten, von Theo arrangierten Wohnungsbesichtigung aufbrachen. „Schnuckelig“ wäre sie, meinte er. „Genau das, was ihr sucht.“
    Aber die Gedanken von Chris drehten sich nicht um die Wohnung, sondern um seine Mutter. Unwillkürlich seufzte er auf.
    Karin, die am Steuer saß, warf ihm einen kurzen Blick zu. „Was hast du?“
    „Ach, ich musste nur an Luise denken“, murmelte er. „Wie kann der einzige Lebensinhalt eines Menschen nur aus Falten, Fett und gestrafften Wangen bestehen?“
    „Vielleicht ist sie glücklich damit“, meinte Karin achselzuckend.
    Ja, vielleicht. Aber wenn der Zeitpunkt kam, wo es nichts mehr zu straffen gab? Was dann? Was, wenn sie sich vom Temperamentbündel in eine griesgrämige, nörgelnde Greisin verwandelte, weil sie sich endlich eingestehen musste, wie viele Jahre sie auf dem Buckel hatte? Unbehaglich zog er die Schultern hoch. Mit Schrecken dachte er daran, dass seine Mutter eines Tages wirklich alt sein und vielleicht Ansprüche an ihren Sohn stellen würde, die er nicht erfüllen konnte oder wollte.
    Die Wohnung war wirklich schnuckelig, ja, in den Augen von Chris nahezu perfekt. Sie lag im Erdgeschoss, hatte vier Zimmer, war hell und bezahlbar.
    Karin jedoch war ungeduldig und fahrig, ging ein einziges Mal durch die Räume und sagte zu dem jetzigen Mieter: „Ist nett, aber nicht ganz das, was wir suchen.“
    „Wo ist der Haken, hm?“, fragte Chris, als sie wieder im Auto saßen.
    „Die Wohnung ist schön“, gab sie zurück und — schwieg.
    „Okay, lass mich dumm sterben.“
    „Gehen wir essen“, antwortete sie nur.
    Mario, ihr Lieblingsitaliener, hatte erst letzten Monat sein kleines Lokal komplett renoviert. Die rau verputzten Wände waren geblieben, das war aber auch alles. Die dunkle hölzerne Theke war durch ein geschwungenes Gebilde mit viel Edelstahl ersetzt worden, und statt der schweren Eichenstühle gab es jetzt Sessel aus Leder mit chromblitzenden Beinen. Chris hatte das alte Ambiente weitaus gemütlicher gefunden.
    Der kugelrunde kleine Mario strahlte seine Stammgäste an, geleitete sie zu einem Tisch am Fenster und nahm kurz darauf, begleitet von vielen „si, si, Signora“ und „prego, prego“ die Bestellung auf.
    Als Mario eine Flasche Soave brachte und eingeschenkt hatte, kam Chris auf die Wohnung zurück.
    „Also, was?“, fragte er, eine halbe Stunde, nachdem Karin ihm eine Erklärung schuldig geblieben war.
    „Herrgott, Chris! Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch hier leben möchte. Ich weiß nicht, ob ich noch in einer Stadt leben will, in der Sechsjährige ermordet werden und halbe Kinder in `Verrichtungsboxen´ die Beine breit machen, um Geld für den nächsten Schuss an Land zu

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