Mantelkinder
ziehen. Ich weiß nicht … verdammt! Verstehst du, was ich meine?“
Chris nickte mechanisch. Aber er wusste auch, dass es so einfach nicht war. „Du meinst also, Berndorf / Sprenger ziehen sich auf eine einsame Insel zurück und alles ist in Butter? Karin! Wir können uns ins kleinste Klitschdorf im Westerwald verkriechen — auch da wirst du eine Drogenszene finden, sexuellen Missbrauch, Kriminalität aller Art.“
„Ich weiß“, brummte Karin. „Ich dachte nur … Ich dachte, wir könnten trotzdem ein bisschen Abstand bekommen. Einfach nicht mehr mittendrin sein. Ich möchte abends die Haustür hinter mir zu machen und von dem ganzen Irrsinn nichts mehr hören und sehen.“
„Ändert das irgendwas?“
„Es ändert uns“, sagte sie einfach.
Drei schlichte Worte, in denen viel Wahrheit lag. Chris sah aus dem Fenster auf die langen Reihen parkender Autos, deren Lack das Licht der Laternen widerspiegelte, auf vorbeihastende Menschen, bepackt mit Tüten oder Taschen. Das Möbelgeschäft gegenüber versprach in riesigen Lettern dreißig Prozent Rabatt auf alles, und der Supermarkt daneben pries verschiedene Margarinesorten zum Sonderpreis an. Mit jedem Schritt aus der Haustür wurde man fortgespült von hektischer Betriebsamkeit, von schneller, höher, weiter und einem Umfeld, in dem niemand mehr Zeit hatte. Weil die Menschen Geld, „Events“ und dem „absolute Kick“ hinterherhechelten und glaubten, Tag und Nacht erreichbar sein zu müssen. Wenn ein „erfülltes“ Leben heutzutage davon abhing, wie oft man twitterte und wie viele „Freunde“ man auf Facebook sammelte, na, dann herzlichen Dank!
Natürlich konnten sie die Welt nicht ändern. Aber niemand zwang sie, diesen täglichen Wahnsinn mitzumachen. So ähnlich meinte Karin es wohl. Und wahrscheinlich hatte sie Recht.
Sie sah ebenfalls aus dem Fenster und sagte mit Nachdruck: „Ich will so nicht mehr, Chris! Wir müssen ja nicht ans Ende der Welt ziehen. Aber es gibt so schöne Fleckchen hier in der Umgebung …“
Mario kam an den Tisch und reichte Chris ein Telefon. „Signora commissaria!“, verkündete er strahlend.
Chris und Karin warfen sich einen Blick zu. Wenn die Polizistin sie hier aufstöberte, musste es dringend sein. Sehr dringend. Er spürte, wie der Soave in seinem Bauch Bocksprünge machte und die Hand, die den Hörer hielt, war mit einem Mal schweißnass. Nicht noch ein Kind!, schoss es ihm durch den Kopf. Bitte nicht noch ein Kind!
„Susanne?“, fragte er heiser in die Muschel.
„Wieso seid ihr nicht zu Hause?“, blaffte sie los. „Wieso schaltest du nie dein gottverdammtes Handy ein? Wieso muss ich mir die Finger wundwählen, ehe ich dich auftreibe?“
Chris fühlte sich hundeelend, als er ihre Tirade mit einem „Was ist passiert, im Himmels willen?“, unterbrach.
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Susanne beschloss, den Alptraum im hinteren Zimmer zunächst zu ignorieren. Sie konnten sich später darüber Gedanken machen, was das zu bedeuten hatte. Was sie nicht ignorieren konnte, war der Gestank, der aus dem Raum drang. Sie streifte sich ein Paar Einmalhandschuhe über und riss im Wohnzimmer erst einmal das Fenster auf, ehe sie sich näher umsah. Schrankwand: Eiche rustikal, wie in vielen anderen Wohnungen auch. Zwei Sessel und eine dreisitzige Couch drapierten sich um einen schweren Holztisch. So weit, so normal. Aber man sah nicht das geringste Staubkörnchen und es lag nichts herum. Kein aufgeschlagenes Buch, keine Tageszeitung, kein Einkaufszettel. Null. Sie entdeckte auch nirgendwo den alltäglichen Krimskrams: die Nippesfiguren, die jemand sammelte, die Bilderrahmen mit wichtigen Erinnerungsfotos, Kästchen, in denen man das übliche Allerlei aufbewahrte, oder, oder, oder. Lebte hier überhaupt jemand?
Die Bücher, die in einem Regal neben dem Fernseher standen — vorwiegend Allende, Irving und Roth — waren millimetergenau ausgerichtet. Ebenso die DVDs, die streng alphabethisch nach Titeln geordnet, darunter standen. Daneben steckte eine dicke Kladde, in der alle Filme katalogisiert waren: Regisseur, Hauptdarsteller, ausführliche Inhaltsbeschreibung.
In der Küche, die so großzügig geschnitten war, dass auch ein runder Esstisch samt sechs Stühlen Platz fand, packte Susanne erst Recht das Entsetzen. In einem schmalen Geschirrschrank war jeder Teller, wirklich jeder, durch ein passend geschnittenes Tuch vom anderen getrennt. Die Henkel der Tassen zeigten alle in die gleiche Richtung. Und nicht ein einziges
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