Mantelkinder
Stück Porzellan war angeschlagen.
Die Küche selbst wirkte genauso steril wie das Wohnzimmer. Blanke Arbeitsflächen, keine benutzte Tasse, kein beschmiertes Messer. Das Spülbecken wies nicht einen Kalkflecken auf und hätte locker in die Meister-Proper-Werbung gepasst.
Als sie Ballmanns Schlafzimmer inspizierte, ahnte sie schon, was sie vorfinden würde. Im Schrank gab es unteranderem drei Schubladen mit quadratischen Unterteilungen. Jedes Quadrat beherbergte ein Paar Socken. Oben die Schwarzen, in der Mitte die Grauen und unten das blaue Sortiment. Hemden und Hosen hingen farblich sortiert im Schrank und waren alle in dünne Plastikfolie gehüllt. Und auch hier kein einziges Staubflöckchen. Nicht einmal unterm Bett.
Nachdenklich betrachtete Susanne die geblümte Tagesdecke, die militärisch straff gezogen war und selbstverständlich keine einzige Falte warf. Diese Pedanterie hatte ohne Zweifel pathologische Züge. Die Leute von der Spurensicherung würden sich gewiss die Haare raufen und Tage brauchen, bis sie nachweisen konnten, dass Claudia sich in dieser Wohnung befunden hatte — wenn überhaupt.
„Susanne?“ Klippstein stand in der Tür, verschwitzt wie immer. „Ich hab den Fiesta! Steht in der Nebenstraße.“
Es nieselte leicht, als sie mit Klippstein aus der Haustür trat. Er schlug den Mantelkragen hoch und fragte: „Ist Ballmann der Richtige?“
Gute Frage — nächste Frage, dachte sie und blieb eine Antwort schuldig. Vieles sprach dafür, aber die endgültige Gewissheit würden sie erst nach einem DNA-Abgleich oder seinem Geständnis haben. Bis dahin blieb die Möglichkeit, dass sie einfach einen Menschen festgesetzt hatten, der sich in keimfreier Sterilität wohlfühlte und — warum auch immer — ein Zimmer seiner Wohnung zur Leichenhalle umfunktioniert hatte.
Der Wagen von Greta Ballmann entsprach den Zeugenbeschreibungen: Die Heckklappe war auf der linken Seite eingedrückt, das Rücklicht herausgeschlagen. Susanne warf nur einen kurzen Blick ins Innere. Es schien beinahe ebenso sauber wie die Wohnung.
Kurz darauf überließ sie das Feld den Technikern und machte sich mit Hellwein auf den Weg zurück ins Präsidium. Sie brannte auf die erste Vernehmung von Ballmann, wollte es wissen, wollte ihn schütteln, damit er gestand.
Er hatte ein mächtiges Veilchen, verlor aber kein Wort über Hellweins Misshandlung. Im Gegensatz zu seinem Gestammel vom Vormittag war er völlig klar und aufmerksam und erklärte deutlich, dass er auf einen Anwalt verzichtete, obwohl Susanne wie auch Breitner ihm nahelegten, dass es besser für ihn war, einen Verteidiger an seiner Seite zu haben. Aber er blieb bei seiner Entscheidung.
Die ersten Fragen zur Person beantwortete er umfassend. Mit leiser und emotionsloser Stimme erzählte er, dass er dreiundfünfzig Jahre alt und Frührentner war. Seinen Beruf als Buchalter in einem Großhandel hatte er wegen starker Rückenprobleme nicht mehr ausüben können.
Als Susanne aber Claudia erwähnte, den Tag, an dem sie verschwunden war, versiegte sein Redefluss. Er schwieg beharrlich, ließ nicht einmal durch ein Augenzwinkern erkennen, dass er wusste, wovon die Polizistin redete. Und eine Weile war in dem kleinen Raum nur das leise Summen der Videokamera an der Decke zu hören.
Also zäumte sie das Pferd von hinten auf, fragte nach Kindheit und Jugend. Das Ergebnis war erschütternd und würde wohl auch Guido Ketzer, den Seelenklempner, überraschen, der von einem Nebenraum aus das Verhör auf einem Bildschirm verfolgte. Ballmann stammelte, weinte, raufte sich das spärliche Haar, weinte wieder, brauchte etliche Anläufe, um halbwegs zusammenhängend zu erzählen. Susanne hatte schon unzählige Vernehmungen geführt, verrückte, bewegende und bestürzende Geschichten gehört. Aber sie konnte sich nicht erinnern, dass jemand etwas so Tragisches zu Protokoll gegeben hätte.
Rudolf Ballmann war das ältere von zwei Kindern eines evangelischen Pfarrers aus Norddeutschland. Susanne war selbst Protestantin und hatte die Geistlichen ihrer Kindheit immer als weltoffen und dem Leben zugewandt erlebt. In Ballmanns Familie war das anders gewesen. Böse Gedanken wurden grundsätzlich mit dem Ledergürtel des Vaters ausgetrieben, und als der Junge aus dem Kindergarten das Wort „Scheiße“ mit nach Hause brachte, wurde ihm einen Tag lang ein Pflaster auf den Mund geklebt. Sex war absolut unrein und diente nur der Fortpflanzung, und so kontrollierte die Mutter den
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