Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
Vom Netzwerk:
hatte sich aufgelöst, und das Gesicht von Hansen war dunkelrot vor Anstrengung. Der Atem von allen dreien ging pfeifend.
    Als sie um die Biegung kamen, sahen sie Hellwein. Er saß am Rand einer Böschung, unter ihm, im niedrigen Gestrüpp, lag Ballmann. Und Hellwein prügelte mit beiden Fäusten auf ihn ein.
    Schliddernd stoppten Susanne und Müller vor ihnen, packten Hellwein an den Ärmeln seiner roten Daunenjacke und rissen ihn zurück.
    „Bist du denn wahnsinnig geworden?“, herrschte Susanne ihn an.
    „Mensch, mach dich nicht unglücklich“, sagte Müller leise.
    Hellwein kam auf die Beine und blieb schwer atmend stehen, die Hände geballt. Von seinen Schläfen rann Schweiß über die Wangen bis in den Hemdkragen. Voller Abscheu sah er auf Ballmann hinunter, der die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und ein uns andere Mal murmelte: „Ich bin nicht mehr schmutzig … Bitte … Ich bin nicht mehr schmutzig.“
    „Na, dann vergesst nur nicht, Meldung zu machen“, sagte Hellwein heiser und wandte sich ab.
    Susanne und Müller sahen sich an. Es gab nichts zu deuteln, nichts zu beschönigen. Paragraph 340 Strafgesetzbuch: „Körperverletzung im Amt“. Natürlich: Polizisten waren Menschen, und Menschen empfanden Wut und Empörung und waren manchmal unbeherrscht. Und welcher Polizist hatte nicht schon mal kurzfristig die Dienstvorschriften vergessen? Trotzdem konnte Susanne den Vorfall nicht einfach unter den Teppich kehren. Allein die Anwesenheit der beiden anderen Beamten zwang sie dazu, einen entsprechenden Bericht zu schreiben, womit Hellwein ein Disziplinarverfahren sicher war.
    Hansen tat schließlich das einzig Richtige. Sie stellte sich über Ballmann und zog ein paar Handschellen aus der hinteren Hosentasche ihrer Jeans. Während sie Ballmanns Arme hochriss und das Metall um seine Handgelenke schnappen ließ, sagte sie beiläufig: „Ich hab nix gesehen. Ihr etwa?“
    Dann wandte sie sich Ballmann zu. „Rudolf Ballmann, ich nehme Sie vorläufig fest wegen des Verdachts des vorsätzlichen Mordes, der Freiheitsberaubung und des schweren sexuellen Missbrauchs mit Vergewaltigung.“
    Zu den restlichen Floskeln kam sie nicht mehr, weil jetzt endlich die Kollegen um die Ecke bogen, die Posten hätten beziehen sollen. Einer von ihnen war ausgerechnet Schneider, der in seinem dunklen Wollmantel beinahe schlank wirkte. Er sah auf Ballmann, auf das rechte Auge, das langsam zu schwoll, die aufgeplatzte Lippe.
    „Er ist hingefallen“, erklärte Müller lapidar und warf Susanne einen kurzen Blick zu.
    Schneider knatschte auf seinem Kaugummi herum und nickte bedächtig. „Verstehe. — Ich hätt ihn auch fallenlassen.“
    „Das reicht!“, fuhr Susanne dazwischen. Sie hatte Verständnis für Hellwein und war heilfroh, dass Hansen und Müller so reagierten. Sie würden die Angelegenheit „vergessen“ und gut war es. Aber sie alle waren Polizisten und keine Richter. Und sogar ein Rudolf Ballmann hatte das Recht auf eine angemessene Behandlung.
    „Kommissarin Hansen, lesen Sie ihm seine Rechte vor!“, sagte Susanne so scharf, dass es bei niemandem Zweifel geben konnte, wer die weisungsbefugte Beamtin war. „Müller, greif ihn ab und gib mir die Hausschlüssel. Bringt ihn ins Präsidium. Zwei von euch kommen mit einem Durchsuchungsbefehl zurück. Wir anderen sehen uns schon mal um. Die Spurensicherung soll die Beine in die Hand nehmen. Und — ach ja: Ich will wissen, was er im Nebenhaus getan hat.“
    Während Hansen ihren Pflichten nachkam, riss Müller den immer noch vor sich hin murmelnden Ballmann hoch und stellte ihn auf die Beine.
    Susanne nahm sich Zeit, den Mann, der wahrscheinlich ein sechsjähriges Kind getötet hatte, eingehend zu betrachten. Alles an ihm wirkte porentief rein. Seine Hände, die mit Sicherheit noch nie einen Hammer gehalten hatten, waren glatt und feingliedrig, die Nägel gebürstet. Seine Jacke war über die Schultern gerutscht und gab ein weißes Hemd frei. Zugeknöpft bis oben, aber ohne Schlips. Schärfere Bügelfalten wie die an den Ärmeln hatte Susanne noch nie gesehen. Am auffälligsten aber war sein Gesicht: Rund, frisch, faltenlos. Es wirkte, als ob der Rasierapparat dort im Dauereinsatz wäre. Wobei sie ihren Kopf verwetten könnte, dass er sich dabei noch nie geschnitten hatte. Die verschorften Spuren auf der Haut stammten mit Sicherheit von kleinen, scharfen Kindernägeln und Susanne musste jetzt ihrerseits an sich halten, um Ballmann nicht das zweite Auge

Weitere Kostenlose Bücher