Mantelkinder
dieses ganze Anti-Aging-Gefasel ging ihm gehörig auf die Nerven. In den Supermärkten blähten sich die Abteilungen mit Vitaminpräparaten immer mehr auf, und die Zeitschriften, die er letztens beim Zahnarzt durchgeblättert hatte, waren gespickt mit Anzeigen über „Fat-Burner“, „Nahrungsergänzungsmitteln“ und das „Ein-Minuten-Training“ für straffe Bäuche und Hintern. Ganz abgesehen von dem hochdosierten Artischockenmittel, mit dem man garantiert Hundertzwanzig wurde. Dass dieses Pülverchen auch noch glatte Haut machte, verstand sich von selbst. Was, zum Teufel, war so schlimm an Falten? Und was war wohl letztlich ungesunder? Seine zwanzig Zigaretten täglich oder die geballten Botoxladungen, die Luise sich alles sechs Monate unter die Haut spritzen lassen musste, damit ihre Stirn wie die eines Teenagers wirkte?
„Hab ich euch überhaupt schon von Martin erzählt?“, schreckte Luise ihn aus seinen Überlegungen. Die Gabel mit dem Kuchenstück schwebte einen Moment vor ihrem Mund. Der kleine Finger war abgespreizt. „Himmlisch, sage ich euch! Allerdings ist er schon einundsechzig!“
Mein Gott, dachte Chris entgeistert. Sie hatte schon wieder einen Neuen! Der wievielte war das, seit sein Vater tot war? Hoffentlich war er gesundheitlich auf der Höhe. Die Männer, mit denen Luise ein engeres Verhältnis einging, segneten nämlich nach spätestens einem Jahr das Zeitliche. Auf diese Weise hatte sie in den letzten acht Jahren vier Liebhaber verschlissen. Und manchmal, in ganz dunklen Stunden, drängte sich Chris ein böser Verdacht auf …
„Na ja“, plauderte seine Mutter weiter. „Man merkt ihm das Alter nicht an. Im Bett jedenfalls nicht. Gibt es denn Hinweise, wer die kleine Claudia umgebracht hat?“
Chris brauchte einen Moment, um diesen sprunghaften Themenwechsel zu verdauen. Dann gab er sich wortkarg und erzählte nur das, was sie auch in der Zeitung nachlesen konnte.
Die Kuchengabel vollführte große Kreise in der Luft, als Luise sagte: „Na, haben die denn auch die Penner an den Uni-Wiesen verhört?“
„MAMA!“ Chris kam augenblicklich die Galle hoch. Penner sind asozial und fressen kleine Kinder! Das war mal wieder typisch für seine Mutter. Ausnahmsweise jedoch wurde er angenehm enttäuscht.
„Was regst du dich auf?“, sagte sie nämlich und schob sich noch eine Gabel voll Torte in den Mund. „Ich meine doch nur, dass da eine Menge von denen rumlungern. Da hat vielleicht jemand mitgekriegt, dass ein kleines Mädchen angesprochen wurde“, nuschelte sie kauend. Ein paar Biskuitkrümel und rosafarbene Sahneflöckchen quollen dabei ganz undamenhaft aus ihren Mundwinkeln.
„Die Polizei hat sicher …“ Er stutzte und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Natürlich würde die Polizei die Obdachlosen befragt haben. Ob sie jedoch Antworten erhalten hatten, stand auf einem anderen Blatt. Die meisten Berber redeten höchst ungern mit den Beamten, denn die Furcht, dass man ihnen dann gleich etwas anhängte, war groß. Er jedoch, als „Zivilist“ … Mit ein wenig Schnaps, ein paar Geldstücken und Zigaretten war es ihm schon einmal gelungen, ein paar von ihnen zum Reden zu bringen. Warum sollte das nicht wieder klappen? Gleich morgen wollte er sein Glück versuchen.
„Mensch, Mama!“, rief er. „Du bist Spitze!“
Luise tätschelte ihm den Arm. „Ich weiß zwar jetzt nicht, warum, mein Sohn. Aber wenn du es sagst.“
Das Telefon klingelte. Luise stand seufzend auf und stöckelte auf ihren Highheels in den Flur.
„Martin?“, vermutete Karin leise und grinste. Sie beugte sich über den Tisch und griff die Hand von Chris. „Dass du nie auf die Idee kommst, was gegen deine Lachfalten zu tun!“
„Gott bewahre“, murmelte er und verdrehte die Augen. Dann erklärte er ihr seinen Plan, während Luises Stimme immer lauter wurde.
Es war eindeutig nicht Martin. Sie hörten nämlich Wortfetzen wie „Fett absaugen“, „Busen“ und irgendwann recht schrill: „Das muss ich mir aber von dir nicht bieten lassen! … Das ist ja wohl die Höhe! … Bitte, wenn du meinst!“
Sekunden später kam Luise mit zornrotem Gesicht zurück. Trotz Botox stand eine steile Falte über der Nasenwurzel.
„Irene!“, rief sie empört und ließ sich in ihren Sessel fallen.
Irene war die beste Freundin seiner Mutter, soviel wusste Chris. Und er wusste auch, dass sich die beiden oft in den Haaren lagen und genauso oft wieder vertrugen. Erwartungsvoll sah er Luise an.
Aber die winkte
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