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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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den Wangen und den dunklen Augen, das ihn anlächelte und verzauberte. Schließlich kaufte er Brausebonbons und bot ihr welche an. Einmal war er auch mit ihr zu dem Eiswagen gegangen, der jeden Mittag mit lautem Gebimmel durch die Grünanlage fuhr. Danach blieb Claudia jeden Mittag bei ihm stehen und plauderte ein paar Minuten.
    Die beiden Polizisten wagten jetzt nicht mehr, seinen Redefluss zu unterbrechen, ließen ihn von seinen Vorstellungen reden, die sich um Sünde und Reinheit, Schuld und Unschuld drehten. Nach dem Tod der Mutter ging er nicht mehr auf den Straßenstrich, sondern gab sich Phantasien hin, in denen immer häufiger Claudia vorkam. Er schmiedete einen Plan, den er eine Weile immer und immer wieder in Gedanken durchspielte, bis er sicher war, dass es keinen Fehler, keine unbekannte Größe in seinen Berechnungen gab.
    Und dann war der Tag gekommen. Erst hatte Claudia Bedenken, mit ihm zu fahren. Aber nachdem er versprach, von zu Hause aus ihren Eltern Bescheid zu geben, stieg sie in sein Auto. Natürlich rief er die Eltern nicht an, sondern sah den ganzen Nachmittag mit Claudia fern. Später bekam sie Hunger und beschwerte sich, dass es in seiner Wohnung stank. Aber da war es schon längst dunkel und sie brachen auf, um die Kaninchen zu füttern.
    Er sagte tatsächlich „um die Kaninchen zu füttern“, als ob es sie wirklich gegeben hätte. Die Einzelheiten, die er nun ohne erkennbare Emotionen schilderte, waren das Entsetzlichste, was sich Susanne jemals in diesem Raum hatte anhören müssen. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Aber sie blieb wie angenagelt auf ihrem Stuhl sitzen und sah mehrfach verstohlen zu Hellwein, der die Gesichtsfarbe gewechselt hatte.
    Als Ballmann endlich fertig war, sagte lange Zeit niemand etwas. Nur das Summen der Kamera war zu hören.
    Hellwein fasste sich als erster wieder. „Und der Roller? Der Rucksack?“, fragte er mit belegter Stimme. „Wo sind die Sachen geblieben?“
    Ballmann sah zum ersten Mal wieder auf. Ein dünner Speichelfaden hing an seinem Mundwinkel. „Sie hatte alles im Auto gelassen. Später … als es vorbei war … ich wollte das Zeug vergraben. Also bin ich zum Gremberger Wäldchen gefahren und bin losgegangen, um eine passende Stelle zu finden. Ich hab auch eine gefunden, aber als ich auf den Parkplatz zurückkam, um den Roller und den Rucksack zu holen … Da stand plötzlich noch ein anderer Wagen und da … da bin ich einfach weggefahren.“
    „Ich verstehe. Liebespärchen waren in Ihrem Plan nicht vorgesehen, was?“
    Ballmann presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich bin dann in den Königsforst gefahren. Nach Brück, wo der See ist. Ich dachte, ich könnte dort unbemerkt … Aber da stand auch ein Auto … Erst auf der anderen Seite des Sees konnte ich die Sachen ins Wasser …“
    Er brach ab und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Er, der Perfektionist, hatte sich also doch verkalkuliert. Hatte von seinem Plan abweichen und sich noch einmal in Gefahr begeben müssen. Darüber vergoss er Tränen. Nicht, weil er ein Kind getötet hatte. Susannes Magen hob sich wieder. Sie wollte auf ihn losgehen, mit den Fäusten auf ihn eintrommeln, ihm die Polizeifotos des kleinen toten Körpers ins Gesicht schleudern, ihn zwingen, dafür Tränen zu vergießen. Aber es wäre sinnlos, das wusste sie. Er würde es nicht verstehen. Also ballte sie die Hände, bis die Nägel ins Fleisch schnitten.
    „Mach Schluss, Heinz“, forderte sie, denn sie würde Ballmanns Anwesenheit nicht mehr lange ertragen.
    Aber Hellwein dachte gar nicht daran, sondern vertiefte sich in Details. Ob seine Schwester Claudia auch mal begegnet war. Wann er die Lakritzschnecken in Gremberg gekauft hatte. Aus welchem Laden die Möhren stammten. Und schließlich fragte er nach der blauen Kerze.
     
    Als Susanne um kurz nach zehn am Abend die Wohnungstür hinter sich schloss, war sie zutiefst erschöpft. Sie ging in ihr schäbiges kleines Bad, hielt den Kopf ins Waschbecken und drehte kurzerhand den Kaltwasserhahn auf. Dann stand sie lange vor dem Spiegel, starrte auf die vielen eingetrockneten Spritzer und Schlieren, den Sprung links oben. Eiskaltes Wasser tropfte aus ihren Haaren, drang durch den Pullover auf die Haut, sammelte sich unter dem Kinn und lief ihr in den Ausschnitt.
    Sie versuchte, Claudia aus ihrem Kopf zu bekommen. Ballmann. Seine detaillierte Schilderung des Missbrauchs, die so viel drastischer und grauenhafter gewesen war als

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