Mantelkinder
hat und erst zuschlägt, wenn der erste Täter verhaftet ist? Normalerweise gehen Trittbrettfahrer anders vor.“
„Richtig!“ Susanne nickte langsam. „Es handelt sich auch nicht um einen Trittbrettfahrer, Chris. Und genau da liegt unser aller Problem.“
Sie trank ihr Glas leer und räusperte sich, ehe sie erklärte: „Zwischen Annikas Beinen lag eine blaue Kerze.“
„Und?“ Er verstand nicht. Vielleicht lag es am Grog. Vielleicht an seiner immer noch heißen Stirn.
„Wir haben kein Wort über die Kerze veröffentlicht, Chris. Es ist nie auszuschließen, dass es Plaudertaschen bei uns gibt, oder dass einer was aufgeschnappt hat. Aber wir sind gestern Nachmittag gleich alle Berichterstattungen über Claudia durchgegangen. Presse, Rundfunk, Fernsehen, Internet. Nichts! Für die Öffentlichkeit existiert keine blaue Kerze.“
Chris fror plötzlich. „Das heißt …“, setzte er an, wagte dann aber doch nicht, seine Gedanken auszusprechen.
Susanne übernahm das für ihn. „Das heißt, dass wir rein theoretisch einen ziemlich eng begrenzten Täterkreis haben.“
„Polizisten, Spurensicherung, Labor“, begann er, aufzuzählen. „Staatsanwaltschaft, euer Seelsorger, Psychiater … mein Gott!“
„Ja, Chris. Und alle, die Claudia nahestanden.“
„He — Moment mal!“
„Es tut mir Leid“, sagte Susanne leise, während sie sich das Glas noch einmal füllte. „Aber so, wie Dutzende unserer Leute von der Kerze wussten, wissen es Wolfgang und Monika Seibold und die Großeltern. Sie alle haben darauf bestanden, jedes Detail zu erfahren. Karin weiß es, du weißt es, wahrscheinlich die Schwester der Seibold …“
„Verdammt Susanne! Du glaubst doch wohl nicht …“
„Nicht ernsthaft“, unterbrach die Kommissarin ihn beschwichtigend. „Aber du weißt, dass ich dem nachgehen muss. Zumindest werden wir bei all diesen Leuten überprüfen müssen, ob sie etwas über die Kerze weitererzählt haben. Sieh mal, es ist doch so: Nimm nur mal unseren Pfaffen. Der hat die letzten zwei Wochen eine Menge zu verkraften gehabt. Irgendwo muss der das auch wieder losgeworden sein. Vielleicht bei seiner Haushälterin. Die erzählt es beim Friseur, und schon wissen es zwanzig andere. Das gilt für jeden von uns. Eigentlich darfst du über laufende Ermittlungsverfahren nicht reden. Aber ich würde für niemanden die Hand ins Feuer legen, zumal im Moment nicht, wenn die seelische Belastung so groß ist.“
„Und Seibold geht in die Kneipe, säuft sich einen an, murmelt seinen Kummer über die Theke, und zehn Kumpels hören von einer blauen Kerze“, spann Chris den Gedanken weiter.
„So ähnlich, ja“, pflichtete Susanne ihm bei. „Deshalb hab ich eben gesagt, dass der Täterkreis nur theoretisch sehr klein ist. Praktisch könnte das uferlos werden. Aber wir werden uns natürlich alle die vornehmen, die auch nur andeutungsweise mal was von der Kerze gehört haben. Wir sind uns nur noch nicht ganz einig, wie wir innerhalb unserer Behörde vorgehen. Klar, dass wir eine Art Vorermittlung in den eigenen Reihen starten. Es ist allerdings ganz schön unangenehm, die eigenen Leute vernehmen zu müssen. Außerdem überlegt Breitner, ob sie den Fall an die Staatsanwaltschaft Aachen oder Bonn abgibt. Sie meint, wenn wir selber ermitteln, kommt vielleicht der Verdacht auf, wir kehren was unter den Teppich. Wenn sie das wirklich tut, kannst du dir vorstellen, wie die Kacke am Dampfen ist.“
Sie schob nervös ihren Cognacschwenker über den Tisch. „Ich sag´s mal so: Wir versuchen, das Ganze unterm Deckel zu halten. Und dafür wäre es hilfreich, wenn wir schnell eine konkrete Spur hätten.“
Die Kommissarin hob den Blick und sah ihren Freund herausfordernd an. Sie würde niemals direkt sagen: „He, mach dir Gedanken. Hilf mir“. Aber Chris war klar, dass der letzte Satz ein Köder gewesen war. Und selbstverständlich würde er anbeißen. Wenn Marlene Breitner den Fall abgab, würde es zwangsläufig zu einem Skandal kommen — wovon Köln eigentlich schon genug hatte. Zurzeit wurde gegen den ehemaligen Leiter der Flughafenwache ermittelt, weil er Gold eingeschmuggelt haben sollte; ein Polizeibeamter war als Serienbankräuber entlarvt worden und eine ganze Reihe hoher städtischer Beamter stand seit Jahren unter Korruptionsverdacht. Polizisten oder Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, die wie alte Waschweiber klatschten oder, im schlimmsten Fall, ein Kind umbrachten, hätten gerade noch gefehlt.
„Dann lass uns
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