Mantelkinder
Tinni aktiv werden, wenn er nichts Konkretes zu bieten hatte?
Dass es nichts Konkretes zu geben schien, war Punkt zwei, der ihm nicht passte. Wie konnte es möglich sein, dass dreißig Leute rund um die Uhr ermittelten und dabei nur heiße Luft herauskam? Niemand konnte auch nur den kleinsten Hinweis liefern, was mit Annika am Freitagmorgen geschehen war. Kein Anwohner, keine Kindergärtnerin. Von dem Augenblick an, wo die Mutter sie über die Straße gebracht hatte, schien die Kleine wie vom Erdboden verschluckt.
Man hatte Fremdfasern an Annikas Kleidung gefunden und einen Fingerabdruck auf der Kerze. Einer bestimmten Person zuordnen konnte man beides jedoch nicht.
Bisher schien es auch zwischen den Seibolds und den Klausens keinen Berührungspunkt zu geben. Weder privat noch beruflich waren sich die Familien je begegnet. Sie hatten keine gemeinsamen Bekannten, kauften in unterschiedlichen Geschäften ein und bevorzugten verschiedene Restaurants.
Bei der blauen Kerze kamen sie ebenfalls nicht weiter. Die Seibolds versicherten, mit niemandem außerhalb der Familie darüber gesprochen zu haben. Die Polizisten, deren diskrete Befragung Marlene Breitner persönlich übernommen hatte, sagten das gleiche aus. Das hieß natürlich nichts. Aus seiner langjährigen Berufspraxis wusste Chris, wie schnell man eine Bemerkung fallen ließ und sich später nicht mehr daran erinnerte. Nichts war so unzuverlässig wie das menschliche Gedächtnis. Und nichts funktionierte so reibungslos wie der Korpsgeist der Polizei. Wenn jemand wüsste, dass ein Kollege etwas über die Kerze gesagt hat, würde er sich eher die Zunge abbeißen, als es Breitner zu erzählen. Letztlich würden die Bemühungen der Staatsanwältin also ins Leere laufen, vermutete Chris.
Nervös trommelte er mit den Fingern auf der gläsernen Schreibtischplatte herum. Es musste doch ein Packende geben. Das Fädchen, mit dem sich das Knäuel abwickeln ließ. Das gab es immer, wenn es auch manchmal so dünn und unscheinbar war, dass man eine halbe Ewigkeit danach suchte.
„Nochmal, Sprenger“, murmelte er.
Wer oder was verband die beiden Geschichten miteinander? Sicher nicht die blaue Kerze. Sie war Wirkung von was auch immer, aber keine Ursache. Was war es sonst? Claudia? Ballmann? Claudia war zu Ballmann in den Wagen gestiegen. Mit wem war Annika gegangen? Und da war noch etwas. Bevor Chris den Gedanken zu fassen bekam, war er wieder weg.
„Scheiße!“ Mit Schwung warf er seine gesammelten Notizen quer durchs Zimmer, ehe er zum Nasenspray griff.
Er müsste mit Karin darüber reden, gemeinsam mit ihr Ideen entwickeln … Karin … Dieses Mal ließ es sich nicht mehr zur Seite schieben. Bisher hatte er sich mehr oder weniger erfolgreich eingeredet, Karin brauche einfach Zeit. Sie brauchte immer Zeit, wenn sie ein Problem wälzte. Aber je mehr Tage vergingen, desto größer wurde seine Angst. Was, wenn sie entschied, Auseinandersetzungen auch weiterhin aus dem Weg zu gehen? Wenn sie ihre ganze Beziehung infrage stellte? Wenn sie doch lieber die Einzelgängerin blieb, die sie ihr Leben lang gewesen war? „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Chris“, hatte sie mal gesagt, „vielleicht bin ich für so was wie Beziehung versaut“.
„Quatsch, Sprenger!“, sagte er laut. „Sie liebt dich doch!“ Ist das wirklich wahr? flüsterte dieser hässliche Zwerg in seinem Kopf, der immer zur unpassendsten Zeit seine Kommentare abgab. Hat sie ein einziges Mal „Ich liebe dich“ gesagt? Hatte sie nicht, nein. Sie drückte es anders aus. Wenn sie sagte: „Ich möchte, dass wir uns immer nah sind“, wenn sie ein „Mon Chéri“ auf sein Kopfkissen legte oder sein Lieblingsessen kochte, wenn die Kiesel ihn einfach ansahen, war das mehr als diese drei abgedroschenen Worte. War es das wirklich?
Die Nixe fand ihren Chef mit auf dem Schreibtisch liegenden Beinen und vor der Brust verschränkten Armen. Das Büro war in blauen Dunst gehüllt und auf dem dunkelgrünen Teppichboden lagen verstreut mehrere eng beschriebene DIN-A 4-Blätter. Alles deutliche Zeichen, dass ihr Arbeitgeber eigentlich nicht ansprechbar war. Sie musste sich denn auch räuspern, ehe er sie überhaupt zur Kenntnis nahm.
„Wenn Sie jetzt noch Pfeife rauchen, würd ich meinen, Sherlock Holmes grübelt hier rum“, stellte sie fest.
Chris ließ sich nur zu gern von seinen düsteren Gedanken ablenken und sagte mit einem leichten Grinsen: „Also, Watson, was kann ich für Sie tun?“
„Sie denken
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