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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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über das Kind nach, oder?“, fragte die Nixe statt zu antworten.
    „Auch“, gab er ausweichend zurück, ehe er seufzend die Beine vom Schreibtisch nahm.
    „Immer noch nichts?“
    „Keine Spur. Es ist wie verhext.“
    „Und wie geht es Frau Berndorf dabei?“
    Chris sah verstört auf. „Keine Ahnung.“ Wieso sprach sie ausgerechnet jetzt von Karin?
    Die Nixe machte sich daran, die verstreuten Papiere einzusammeln. „Sie hat schon seit ein paar Tagen nicht mehr angerufen“, sagte sie dabei.
    „Na und?“
    „Gleichzeitig haben Sie die mieseste Laune aller Zeiten. Kombiniere ich also richtig?“
    „Und wenn?“, schnappte Chris.
    Sie richtete sich auf und knallte den Papierstapel vor ihn auf den Schreibtisch. Die Brille rutschte nach vorn, die dunklen Augen sprühten wütende Funken.
    „Und wenn? Dann sollte vielleicht mal einer von euch Dickschädeln nachgeben! Ich bin kein Blitzableiter!“, zischte sie und rauschte hinaus. Dabei warf sie die Tür demonstrativ laut zu.
    Chris sah ihr lange hinterher. Dieser Ausbruch war ebenso heftig wie selten. Aber sie hatte Recht — wie immer. Seine Laune war mies, und dass hatte er die letzten Tage mehr und mehr an der Nixe ausgelassen. Er hatte Rechtschreibfehler bekrittelt, die er sonst kommentarlos korrigierte; gemäkelt, dass der Kaffee zu stark war; einen Wutanfall bekommen, weil er eine Akte nicht auf Anhieb finden konnte …
    Reumütig schlich Chris zum Vorzimmer. Er würde sich entschuldigen müssen. Jetzt. Auf der Stelle.
    Aber die Nixe hatte schon Feierabend gemacht.
     
    ********
     
    Es war so einfach gewesen. So unglaublich einfach. Gregor war auch Tage später noch ganz erfüllt von dem Erlebnis.
    Annika war natürlich nicht Claudia. An deren Witz und Intelligenz reichte sowieso niemand heran. Trotzdem genossen sie den Tag mit dem Kind. Und auch Annika war über den unvermuteten Ausflug begeistert. Auf dem Spaziergang hüpfte sie fröhlich vor ihnen her, warf Steine ins Wasser und sprudelte so sehr über vor Energie, dass selbst Lucia gute Laune bekam.
    Später kochten sie auf dem kleinen Gaskocher Spaghetti mit roter Soße und Annika aß so heißhungrig und hastig, dass ihr ganzer Mund verschmiert war. Lucia lachte schallend und schoss ein paar Fotos von der Kleinen. Dann spielten sie „Mensch ärger dich nicht“ und Memory. Auch da war Annika begeistert bei der Sache und freute sich unbändig, wenn sie ein Spiel gewann.
    Sogar das mit den Tabletten war kein Problem. Sie sagten Annika, dass die Pillen sie wachhalten würden, damit sie in der Nacht den Sternenhimmel ansehen kann. Dass das Gegenteil der Fall war, merkte sie schon nicht mehr.
    Erst als sie das Kind an den Baum setzten, kamen Gregor Zweifel. War es nicht Sünde? Todsünde? Sie nahmen einem kleinen Menschen das Leben, einer Mutter ihr Kind. Würde Gott das wirklich gutheißen?
    Lucia geriet völlig außer sich, weil er vor diesem letzten Schritt plötzlich zögerte. „Wir sind so weit gekommen!“, rief sie mit ihrer schrillen Stimme. „Willst du jetzt alles kaputtmachen? Wir bringen dieses Opfer für Claudia! Damit sie nicht so allein ist da oben. Und damit auch wir später bei ihr im Himmel sein können. Wenn wir es nicht tun, schmorst zumindest du in der Hölle, das weißt du ganz genau! Und du wirst Claudia nie wiedersehen!“
    Trotzdem weinte Gregor, als sie es endlich taten. Danach nahmen sie sich viel Zeit. Annikas Haar wurde gebürstet, ihr Pullover zurechtgezupft, die hochgerutschten Beine ihrer pinkfarbenen Hose bis über die Knöchel gezogen, die Schnürsenkel der roten Boots neu gebunden. Gregor wickelte die kostbare Kerze aus dem Seidenpapier und legte sie vorsichtig auf die feuchte Erde. Und schließlich breiteten sie den Umhang über dem Kind aus und tilgten damit den Makel seiner Geburt. Annikas Weg zu Claudia stand nun nichts mehr entgegen.
    Zum Schluss betrachtete Gregor beinahe ehrfürchtig ihr gemeinsames Werk und flüsterte in die Dunkelheit: „Ich glaube, wir haben das sehr, sehr gut gemacht, Lucia.“
    Aber Lucia antwortete nicht.
     

Donnerstag, 22. November
     
    „Blöde Wichser!“ Susanne warf die meistgekaufte Tageszeitung Deutschlands quer durchs Büro. Genau vor die Füße von Breitner, die in diesem Augenblick eintrat.
    Irritiert blieb sie stehen. Dann bückte sie sich und hob die auseinandergefallenen Blätter mit spitzen Fingern auf.
    „Darf ich?“ Sie trat an den Papierkorb.
    „Bitte“, gab Susanne mürrisch zurück und sah zu, wie die Zeitung

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