Mara und der Feuerbringer
vor ihr im Nebel verlor. Sie wunderte sich auch nicht besonders über den hölzernen Steg, auf dem sie lag. Unter dem Steg zog ein Fluss vorbei und Mara hörte das Plätschern des Wassers, das die roh behauenen, dicken Pfähle umspülte, auf denen der Steg im Flussbett stand.
Es ist nur eine Vision, murmelte Mara sich selbst zu. Nur eine Vision. Ich bin nicht wirklich hier. Und gleich, wenn ich wieder die Augen aufschlage, werde ich im Büro des Professors sein. Wo ich die ganze Zeit war. Und immer noch bin. Das ist einfach wie im 3-D-Kino, nur ohne die doofe Brille!
Oje, vermutlich war sie inzwischen wieder umgekippt wie die beiden Male zuvor. Hoffentlich würde Professor Weissinger keinen Arzt rufen oder so etwas.
Wenigstens falle ich auf dem Papierkram weicher als vorhin auf den Pflastersteinen vor der Uni, dachte sich Mara und fand sich dabei sogar fast ein bisschen … na ja … cool.
Doch als sie plötzlich merkte, dass sie nicht allein war auf dem Steg, schmolz ihre Coolness dahin wie Scheibletten-Käse auf einem Toaster: Direkt vor ihr am Ende des Stegs stand ein Mann. Er hatte den Rücken zu ihr gedreht und raffte mit ausladenden Bewegungen ein Fischernetz zusammen. Mara hatte keine Zweifel, wer der Mann vor ihr war, und sofort ging ihr Atem schneller.
Er kann mich nicht sehen, auch wenn er sich umdreht. Die anderen Male hat mich auch keiner gesehen, oder? Also ganz ruhig, er kann mir nichts tun, weil er gar nicht weiß, dass ich da bin, dachte Mara. Trotzdem stand sie nicht auf, sondern blieb erst mal auf den Planken sitzen. Nur zur Sicherheit.
Der Mann trug eine Art Kleid aus grober Wolle oder vielleicht Leinen. Es war dunkelrot gefärbt, aber viel unregelmäßiger, als Mara es von ihren Klamotten kannte. Das eher schmucklose Kleidungsstück reichte ihm bis über die Knie und war über der Hüfte gerafft mit einem Gürtel, an dem ein auffallend verzierter Dolch in einer Scheide befestigt war. Seine Beine waren mit einem ähnlich groben Stoff umwickelt, der von Lederbändern an den Waden gehalten wurde.
Mara konnte nicht umhin, sich kurz vorzustellen, wie fürchterlich das jucken musste! Ihr selbst waren ja schon gestrickte Mützen unerträglich. Vor allem, wenn ihre Mutter sie gestrickt hatte, denn dann kratzten sie nicht nur – sie sahen auch noch doof aus.
Der Mann sah das vielleicht genauso, denn eine Mütze trug ernicht. Dafür war sein langes blondes Haar zu einem kunstvollen Knoten geformt. Seltsamerweise trug er ihn aber nicht am Hinterkopf, sondern an der Seite, knapp über dem rechten Ohr. Käme Mara mit einem solchen Haarknoten über dem Ohr in die Schule, wären sogar noch in Australien die Leute auf die Straße gelaufen, um nachzusehen, woher das Gelächter kam.
Der Mann warf nun sein riesiges Fischernetz hinaus in den nebligen Fluss. Mara runzelte die Stirn. Sie wusste zwar nicht genau, wie man als Fischer ein Netz auszuwerfen hatte, aber das sah irgendwie anders aus. Der Mann wirkte nämlich überhaupt nicht wie jemand, der diese Bewegungen schon Hunderte von Malen gemacht hatte, sondern eher wie … Mara überlegte. Irgendwo hatte sie dieses komische Gehabe doch schon mal gesehen …
Und da fiel es ihr plötzlich ein: Im Fernsehen! Genau, der Mann erinnerte sie an die aufgedonnerten Grinsebacken aus den Dauerwerbesendungen. Er wirkte, als wolle er sich selbst und der Welt besonders eindrucksvoll die Vorzüge dieses großartigen Profi-Fischernetzes demonstrieren, um dann zu verkünden, dass man dazu noch
diese
Hochleistungs-Präzisions-Angel und
diesen
titaniumverstärkten Power-Kescher mit Beschichtung aus der Raumfahrt umsonst bekommen würde – vorausgesetzt, man riefe
sofort
an!
Mit spielerischen, fast tänzelnden Bewegungen holte der Mann das Netz wieder ein. Dabei schien es ihn nicht im Geringsten anzustrengen, ein mehrere Meter langes Netz mitsamt einem wild wuselnden Haufen armlanger Fische auf den Steg zu wuchten. Und jedes Mal, wenn er nachgreifen musste, ließ er vorher den Arm durch die Luft sausen wie ein schlechter Straßenpantomime, bevor er zum imaginären Treppengeländer griff.
Dieser Mann tat ja gerade so, als wäre dieses simple Fischernetz die größte Sache seit Erfindung des Rades. Nein, er benahm sich, als hätte er das Fischernetz höchstpersönlich erfunden!
»Das hab ich auch, und zwar erst gestern«, sagte der Mann, drehte sich herum und sah Mara an. Mit seinen schwarz glänzenden Augäpfeln, leuchtend wie ein schwarzer Mond in einer weißen Nacht.
Weitere Kostenlose Bücher