Mara und der Feuerbringer
Mit den Augen des Mannes, den Mara eben noch auf dem Bild gesehen hatte. Mit den Augen des Mannes, den die Götter auf den Felsen gebunden hatten.
»So erstaunt über die eigene Gabe,
Litilvölva
?«, fragte Loki. Dabei grinste er breit und seine dünnen Lippen umrahmten perlmuttweiß blitzende Zähne.
Und Mara schrie so laut, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück und bemerkte im gleichen Moment den Fehler, als ihre Füße plötzlich keinen Boden mehr unter sich spürten. Gerade noch konnte sie sich an einer der dicken Bohlen des Stegs festhalten und hing nun hilflos im eiskalten Wasser des Flusses. Der riss mit erstaunlicher Kraft an ihren Beinen, als wolle er sie zu sich hinunterziehen!
»Hilfe!«, rief Mara: »Bitte helfen Sie mir!« Und tatsächlich sah es für einen Moment so aus, als würde Loki sich zu ihr hinunterbeugen.
Doch da erstarrte das spöttische Lächeln im Gesicht des Mannes. Er musste irgendetwas entdeckt haben, das ihm einen fürchterlichen Schrecken einjagte, denn sofort wandte er sich von Mara ab und verschwand vom Rand des Stegs.
Gleichzeitig spürte Mara, wie etwas Schweres über den Steg rumpelte und dabei die Holzbohlen immer stärker vibrieren ließ!
Sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Loki mit einem weiten Satz vom Ende des Stegs sprang … und doch nicht im Wasser aufschlug. Stattdessen tauchte ein rötlich glänzender Fisch in die Wellen, sprang noch einmal übermütig in die Luft, bevor er dann endgültig in den Fluten verschwand.
Für eine Sekunde vergaß Mara ihre missliche Lage, als sie begriff,dass sich dieser Mann gerade vor ihren Augen in einen Fisch verwandelt hatte.
Da donnerte der geheimnisvolle Verfolger auch schon an ihr vorbei und das Letzte, was Mara erkennen konnte, waren das Geweih und die Hufe eines Geißbocks und das Rad eines riesigen Streitwagens. Der wackelige Steg ächzte noch ein letztes Mal unter dem Gewicht des mächtigen Gespanns, doch dann gab er endgültig nach. Seile platzten, armdicke Bohlen wurden in die Luft geschleudert, überall krachte und dröhnte es, als der Steg sich in seine Einzelteile auflöste und Mara unbarmherzig mit sich riss.
»Nein!«, schrie sie und wusste nicht, ob sie es laut geschrien hatte oder nur in ihrem Kopf. Doch da umschloss sie der reißende Fluss auch schon mit seinen eisigen Armen …
Mara versank wie ein Stein und die Kälte schnürte ihr den Hals zu. Ein schwerer Balken verfehlte sie nur um Haaresbreite und schwebte für einen Moment neben ihr, als würden sie zusammen eine Art Unterwasserballett aufführen. Mara brauchte einen Moment, bis sie die Chance erkannt hatte, doch dann griff sie endlich zu und umklammerte das Holz mit beiden Armen.
Als sie nach ein paar weiteren endlosen Sekunden tatsächlich wieder die Wasseroberfläche durchbrach, war sie schon viele Meter von den Resten des Stegs entfernt. Immer weiter riss sie die Strömung fort und jede Hoffnung, wieder zum Steg zurückzugelangen, schwand ebenso schnell wie Maras Kräfte. Trotz der Kleider, die sie nach unten zogen, versuchte sie, den Kopf über Wasser zu halten, und klammerte sich mit dem Mut der Verzweiflung an dem glitschigen Balken fest.
Mit verschwommenem Blick nahm Mara noch wahr, dass der weit entfernte Wagen mit den Böcken mitten im Fluss mühelos der Strömung trotzte. Eine riesenhafte Gestalt hielt die Zügel mit einerHand und schwang mit der anderen ein Fischernetz im weiten Bogen um sich. Lokis Fischernetz?
Doch da wurde die Gestalt auch schon vom Nebel verschluckt und Mara sah gar nichts mehr außer Wasser und milchigem Weiß …
Das dumpfe Brausen des Wasserfalls nahm Mara einfach nur noch hin. Sie hatte nicht mehr die Kraft zu schreien. Es wäre auch völlig sinnlos gewesen, sich gegen die Strömung zu wehren. Und als sie schließlich zusammen mit den Wassermassen in die Tiefe stürzte, spürte Mara nur noch, dass sie nicht mehr Wasser treten musste …
Mara erinnerte sich nicht an den Aufschlag. Eben war sie noch gefallen und nun umschloss sie eine eiskalte Dunkelheit. Die Wucht des stürzenden Flusses schlug unaufhörlich auf sie ein, ließ sie sich immer und immer wieder überschlagen. Nirgendwo war oben, irgendwo war unten und überall war nichts als eiskaltes Wasser.
Aufwachen!, war das Vorletzte, an das Mara dachte. Das Letzte waren ihre Eltern. Sie saßen zu dritt am Frühstückstisch, Mara wollte kein Müsli, Papa lachte und Mama auch, und dann lachte auch
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