Márai, Sándor
ganz so aus wie ein Mensch.«
SCHNEE
Der Winter hat etwas, das an die Kindheit erinnert, unmittelbarer und schmerzlicher als andere Jahreszeiten. In der blaugrauen Farbe des Schnees, im Dämmerlicht der Stuben, dem rohen, durchdringenden Geruch der Öfen, in allem ist etwas Vertrautes und für immer Verlorenes. Diese Erinnerung macht einen frösteln. Der Blick zurück in die Kindheit ist im Winter wie eine öde, verlassene Wohnung, aus der alle ausgezogen sind, die wir geliebt haben, wie eine Wohnung, aus der man die Einrichtung fortgeschleppt hat und die sich nicht mehr heizen und warm halten lässt.
LICHTZEICHEN
Februarmorgen, mit sonderbaren Lichtzeichen, am Dach, überm Wald und in den Pfützen der Straße, als spielte ein Lausbub mit seinem Spiegel und lenkte die Sonnenstrahlen überallhin. Doch der freche Bengel ist der erwachende Frühling.
BACH
Diese Musik ist gar nicht aus Noten, sondern aus Zahlen aufgebaut; doch die Ziffern bezeichnen Werte des Unendlichen, die absolute »Eins«, die absolute »Hundert«, ohne einen praktischen Zweck und ohne Sinn; als würden die Zahlen, mit denen auch Marktweiber feilschen und sich streiten, von jedem irdischen Bezug gereinigt und nur noch die Sterne mit ihnen beziffert.
SEUFZER, MORGENS UM VIER
Was wünschte ich mir eigentlich?
Ich würde mir wünschen, dass Ungarn ein Meer hätte und ich morgens um vier am Meeresstrand unter Zypressen und Kugelakazien sitzen könnte, mit Verlaine und Vörösmarty, beschwingt von Badacsonyer Wein, in Erwartung der Morgendämmerung das Meer betrachtend.
SCHNEEGLÖCKCHEN
Diese verdächtigen, penetrant weißen, mutlosen Schneeglöckchensträuße, die auf der Promenade körbeweise feilgeboten werden; voller Argwohn erstehe ich die taufrischen Büschel, weil sie sich so hastig, beflissen und vor der Zeit eingestellt haben; möglich, dass es gar keine echten sind. Sollten es falsche Schneeglöckchen sein, die hier ohne Legitimation den Frühling verkünden; wie es ja auch falsche Kaminkehrer gibt, die sich in der Silvesternacht rußbeschmiert herumtreiben, um etwas dazuzuverdienen, aber in Wirklichkeit Bürogehilfen sind. Man muss schon vorsichtig sein.
EISBRECHER
Der Wind ist so wild und hart wie die Attacke einer Horde von Marodeuren, die in die Stadt eingefallen ist, mit schäbigen Pistolen um sich ballert und plündert. Die auch gegen Mauern anrennt, nackte, kahle Bäume umklammert, ihre Stämme biegt und beugt, ringt und streitet. Zu all dem scheint die Sonne, höflich und kalt, wie ein blutrünstiger, kühler Tyrann, der dem Treiben seiner randalierenden Schergen gleichgültig zusieht; es scheint die Sonne, die vorerst nur Licht und keine Wärme spendet. Als hätte man Häuser und Fenster mit kaltem, farblosem Lack bestrichen.
DER AUSWANDERER
Bleifarbener Morgen mit Möwen und dröhnendem Nebelhorn, wenn ich auf der Graf-István-Tisza-Straße gehe, wie ein Auswanderer an Deck eines großen alten Dampfschiffs, im Herzen die schmerzende Erinnerung an daheim und einen Beutel aus Wachstuch um den Hals, mit fünfundsiebzig Dollar und einer Handvoll Heimaterde darin.
SCHMELZE
Es liegt etwas in der Luft; als ob die Welt sich schmollend zieren würde. Ein einziges gutes Wort genügt, und sie fällt dir um den Hals.
BITTE
Liebe mich so ganz nebenbei und sanft, auch ein wenig zerstreut, gerade nur so, wie man Atem holt oder wie der Mensch an einem Dienstag, an dem »überhaupt nichts geschieht«, so lebt. Ich schätze es nicht mehr, geliebt zu werden wie in der Oper, im zweiten Akt, wenn sämtliche Hörner schmettern, die Scheinwerfer in allen Farben des Regenbogens strahlen und die Protagonisten pro Abend tausend Pengő für ihren Auftritt kassieren. Liebe mich wie eine ganz wichtige Privatangelegenheit, ohne besondere Aufmerksamkeit. Dann werde ich, vielleicht, auch aufmerksam sein.
MÄRZ
Überglücklich bin ich, März, weil ich dein Kommen noch einmal erleben durfte! Durch die Influenza, diese Pestilenz des Winters, durch das Schattenreich der Finsternis sind wir zu dir gewatet. Wie aus der Grube, einem Schlagwetter entkommend, mit schlammverschmierten Schuhen und ausgepumpter Lunge halte ich im Tageslicht inne, verschnaufe und beginne zu singen.
Ich singe: Sei mir gegrüßt, März! Es dauert seine Zeit, bis man gelernt hat, dass einen auch ein Kalendertermin erfreuen kann. März, das ist eine Jahreszeit für sich, hat mit dem Winter und dem Frühling nichts gemein. Er besitzt sein eigenes Licht. Pflanzen hat er noch
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