Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
Vom Netzwerk:
erschreckend und starr, wie schieläugig er blickt, so als sähe er etwas! Störe ihn nicht! Er ist verliebt.
    ABSCHIED
    Die Mediziner sagen, dass blaue Augen immer seltener werden. Das elektrische Licht mache sie kaputt. Langsam werden sie verschwinden wie das Okapi.
    Diese Nachricht versetzt mich in Trauer. Ich weiß, solche pathologischen Prozesse vollziehen sich langsam; für die Dauer meines Lebens werden sie noch reichen, die blauen Augen. Und ich persönlich habe an dem Phänomen ja keinen übertrieben großen Bedarf. Ein, zwei Augenpaare genügen mir lebenslänglich. Doch kann ich mir die Welt ganz ohne blaue Augen einfach nicht vorstellen. Immer dachte ich, sie sind so etwas wie eine Sekte für sich, die Blauäugigen. Als hätten sie sich verbündet. Als hätten sie sich inmitten der Braun-, Schwarz-, Grün- und Grauäugigen darauf verständigt, sich mit den Übeln in der Welt nicht abzufinden, sie nicht. Wie die Meeraugen* in den Karpaten kamen sie mir immer vor. Als hätten sie zu lange staunend und verzückt in den Sommerhimmel gestarrt. Als hätten sie sich zu etwas verschworen, bis in den Tod. Mitten in der Menschenmenge strahlten sie mir auf der Straße entgegen, als wären Vergissmeinnicht aus dem Asphalt gesprossen. Als suchten sie für immer dem Dichter Ernő Szép* zu gefallen, der einmal ein Gedicht über sie geschrieben hat, als sei ihr Leben nichts weiter als ein Thema für ein Gedicht. Als wären sie irgendwie Neugeborene geblieben, siebzig Jahre lang. Auch Jókai* war einer mit blauen Augen.
    Ich habe auch aufregendere Augen gekannt. Schwarze, die funkelten wie die Klingen aus Toledo; ich kannte auch gemischtfarbige Augenpaare, sie waren zugleich braun und grau, wie ein falscher Schwur. Doch das blaue Augenpaar war die Glückseligkeit. Immer beugte ich mich über sie, wie einer, der heimgekehrt ist. Nun, da ihr drohender Verlust gemeldet wird, beginne ich die Erscheinung für den Rest meines Lebens zu sammeln. Viele benötige ich ja nicht davon. Aber echte sollen es sein.
    Vorsicht, Sammler. Jetzt, wo der Vorrat zu schwinden beginnt, werden sie gewiss schon irgendwo gefälscht.
    UNGARISCHE SPRACHE
    Meine Liebste, mein täglich Brot, mein Werkzeug, mein Kummer, mein Glück, meine ungarische Sprache! Du bist das Instrument für meine Musik, und doch kann ich mit dir auch so etwas ausdrücken: »Verflucht, wer hat mir schon wieder meinen Schuhanzieher verlegt?« Ich kann aber auch sagen: »Sterbender Schwan, wundervolle Erinnerung.« Mit hundertzwanzigtausend ungarischen Wörtern kann ich ausdrücken, dass ich lebe. Ungarische Sprache, meine Liebe, meine Träume, mein Richter, meine Qual. Mein Alles bist du. Ich lebe in dir wie die Zelle im Blut. Wenn ich sterbe, im allerletzten Augenblick, werde ich auf Ungarisch denken: »Wie seltsam, ich habe gelebt.«
    FREUDE
    Diese Freude, mit der ich all das aufnehme, was sanfter als das Schicksal ist, sie kann ja gar nicht gesund sein: eine Stunde Sonnenschein, eine Gedichtzeile, die ich zufällig in der Sonntagszeitung entdeckt habe, die Geste einer Frau, wie sie sich das Haar richtet, der Duft einer Orange … ja, all das. Dieses Gefühl ist nicht gesund. Nur wer sich verabschiedet, freut sich und bewertet so.
    DER »GROSSE WUNSCH«
    Wir spielten, dass wir am Abend sterben müssen. Ein halber Tag nur noch die Welt. Jeder formuliert seinen »großen Wunsch«, der wie ein Filmtitel klingen soll. Ich schloss die Augen und dachte nach.
    In dem Augenblick wurde mir klar, ich habe keine Wünsche mehr. Ich möchte leben, ganz normal, noch für einige Zeit, solange es mein persönliches Schicksal gestattet. Aber das Leben habe ich bereits gelebt: Ich kenne seinen Geschmack, seine Süße und Bitternis, seine heldenhaften Aufregungen und die noch heldenhaftere Langeweile. Ja, welcher Wunsch wäre zum Abschied noch offen, vom Morgen bis zum Abend? In Dalmatien am Meer sitzen, in einem Dorf und noch einmal das Meer schauen, die Sonne, die Mimosenbäume, die Luft des Meeres und der Unendlichkeit atmen, mit der sich meine Seele verbindet – die Seele, die voll Glaube und Zweifel war und die unsterblich ist wie das blaue Meer und der blaue Äther, in dem sie langsam aufgehen wird.
    DUVERNOIS
    Ein französischer Schriftsteller starb, Duvernois*. Der Vorname ist nicht wichtig. Kann es doch als Zeichen literarischer Größe gelten, wenn man den Vornamen seines Lieblingsautors vergessen hat. Wichtig ist nicht, dass einer Anatol oder Emil heißt. Dass er France oder Zola

Weitere Kostenlose Bücher