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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Tage, an denen die Welt mit allem, was sie an Erlebnis, Anziehung, Bewegung oder Interesse zu bieten hat, so fern ist, dass ich sogar schon alles neugierig betrachte, was einem Schmerzen bereiten könnte – vergleichbar dem unter Lokalanästhesie Operierten, der beim Eingriff das Skalpell und die Handgriffe des Arztes verfolgen kann. Ja, schneide du nur, denke ich. Und wenn ich einen Satz ausspreche, blicke ich ihm hinterher wie ebendieser anästhesierte Patient seinem hervorquellenden Blut.
    WERFEL
    Dieser Autor benimmt sich in seinen Büchern immerfort so, als wäre er dem lieben Gott begegnet. Doch irgendetwas flüstert mir leise zu, dass er Gott niemals über den Weg gelaufen ist; er hat sich nur bei ihm gemeldet, ihn möglicherweise angerufen, aber Gott wollte ihn – aus Gründen, die ich kein Recht habe zu hinterfragen – schließlich doch nicht empfangen.
    AUFSCHREI
    Manchmal vernehme ich unterwegs, auf der Gasse oder der Landstraße, einen Aufschrei. Dann bleibe ich stehen, schau mich um, ich besinne und erinnere mich. Mir fällt ein, dass ich im Schlaf so aufschrie, weil ich hier auf Erden lebte und China, Skandinavien, Batavien nicht gesehen, in Rio nicht auf der Schwelle eines Freudenhauses gesessen habe, trunken vom Mondschein und von der Güte der Frauen, weil ich nicht über die Sümpfe der Mongolei geflogen bin, in Urga nicht mit dem Lebenden Buddha gesprochen habe, und alles das wird auch ohne mich weiterhin existieren, bis ins siebte Glied und für mich unbekannt. Deshalb schreie ich manchmal auf im Schlaf. Aber auch im Wachsein ist es unerträglich.
    KUPRIN
    Kuprin* empfing mich ein wenig benebelt. Er hatte Wodka getrunken, wie seine Romanhelden. Wir saßen in dem möblierten Zimmer in Paris, er sprach undeutlich über die Bolschewiki, über den Welterfolg seines Buches Das Duell und über die Bitterkeit der Verbannung. Er selbst war ebenfalls ein Romanheld, ein russischer Romanheld: zerfahren, schwärmerisch, zwiespältig und ohne Hoffnung.
    Einige Monate oder vielleicht ein Jahr vor seinem Tod ging er, gebrochen und von unerträglichem Heimweh gequält, in seine Heimat zurück. Die Sowjets honorierten es mit einer großen Feier. Seine Kollegen, die in der Verbannung geblieben sind, verurteilten ihn unerbittlich. Mir aber fallen seine trüben Augen ein, sein Zimmer in Paris, ich erinnere mich an die undeutliche, brummelnde Stimme Kuprins, wie er sagt: »Wodka bewirkt, dass der Mensch danach die Welt in Blau sieht«, mir fällt das Leid ein, die Sehnsucht, mit der er an die Heimat dachte, in Paris, wo er mit nichts auf der Welt etwas zu schaffen hatte, nicht einmal mit den Straßenbänken, auch nicht mit den nächtlichen Lichtern des Eiffelturms, mit den literarischen Erfolgen des Maurice Dekobra*: All das fällt mir ein, und ich kann verstehen, dass er nach Hause ging zum Sterben. Auch das Sterben kennt eine Etikette. Ein Mensch mit Moral stirbt daheim.
    DER HAUPTMANN
    In der Kindheit kommen einem Menschen abhanden, sie gehen verloren, und später entsinnen wir uns ihrer schemenhaften Persönlichkeiten, die in einem blassen, dämmernden Augenblick der Erinnerung fixiert sind. So erinnere ich mich an den Hauptmann. Nichts weiß ich über ihn, nur dass er Hauptmann war und eine Zeit lang auftrat und eine Rolle spielte unter den olympischen Göttern meiner Kindheit, er war der Hauptmann und sonst nichts. Dann verschwand er – aber die Figur, diese fast schon literarische Persönlichkeit, lebt fort, insgeheim habe ich ihn vermutlich schon befördert, vielleicht sogar in Pension geschickt, als Oberst mit Backenbart. Unsere Erinnerungen leben, und die Gestalten der Erinnerung durchlaufen eine bestimmte Karriere; arbeiten sich hoch oder gehen unter.
    ÖFFENTLICHER DANK
    Diese Frau war gut zu mir: hat mir fast nichts angetan.
    DER PROZESS
    Laut Franz Kafka ist jeder Mensch in den Prozess involviert, dessen wahrer Inhalt nur sehr schwer in Worte zu fassen ist: Die Anklage weist Unklarheiten auf, von Zeit zu Zeit wird der Mensch verhört, er hat bei bestimmten amtlichen Stellen vorstellig zu werden, wo jemand »seine Personaldaten aufnimmt«, dann schickt man den Angeklagten mit der sanften Verwarnung, dass er sich bis auf weiteres entfernen darf, nach Hause, man händigt ihm das erwünschte Schriftstück noch einmal aus, doch für das kommende Jahr kann man nichts versprechen und gibt die Empfehlung, sich vorzusehen; dann marschieren Zeugen auf und sagen aus, mündlich und schriftlich, männliche und

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