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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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dann kommt der Augenblick, da er mit gleicher Aufmerksamkeit über das Meer und den Wassertropfen schreibt. In einem Satz findet alles Platz; sogar der Wassertropfen.
    Es fängt damit an, dass man sich anschickt, Großes zu schreiben. Später willst du Schönes schreiben. Noch später Gewaltiges, Moralisches, Ausgewogenes. Danach kommt die Zeit des Streikens und der Moment, da du nur noch das Wahre schreiben magst. Und dann merkst du, dass die Wahrheit groß ist, schön, gewaltig, moralisch und auch ausgewogen ist. So einfach ist das? So schrecklich einfach.
    NIETZSCHE
    Auf der vom Neonlicht geschminkten, im winterlichen Zwielicht daliegenden Straße, zwischen funkelnden Auslagen, streifte sie ihren Handschuh ab und gab mir ihre blassgelbe, nackte Hand.
    Inmitten der Schaufensterobjekte, des Lichts der Stadt und des Winters strahlte die nackte Hand fleischlich und greifbar, mit den langen, karottenfarbig lackierten Fingernägeln, der körperlichen Schamlosigkeit, als hätte mitten auf der Vácistraße* in Budapest eine verrückte und glückliche Monna Vanna* im November plötzlich ihren Pelz vom nackten Körper abgeworfen. Der Polizist sah sich nervös um; für einen Augenblick hatten sich die Ordnung und das gesellschaftliche Übereinkommen aufgelöst.
    Der Handschuh war noch warm von ihrer Hand; so herausfordernd und so ungehörig warm wie ein Hemdchen, das man ihr im Augenblick des Abenteuers mit gespielter Leidenschaft vom durchglühten Leib gerissen und mit verlogen keuchender Indolenz weggeworfen hat.
    »Sie werden sich erkälten«, ich wies auf ihre Hand.
    »Oh«, sagte sie, »man muss gefährlich leben.«
    STENDHAL
    Er arbeitete ohne Requisiten. Sagte nicht: »Das Meer war wie …«, und nach dieser Einleitung folgten auch nicht anderthalb Seiten, da defilierten nicht präzise, hechelnde und enthusiastische Zeilen hinterher, die sowohl im dichterischen wie im beschreibenden Sinn das Meer perfekt darstellen. Er sagte nur in der Art eines Hinweises: »Das Meer«. Alles Weitere überließ er dem Leser.
    »Je fais tous les efforts possibles pour être sec«, sagte er. Und so war es »sec«, wie die Natur, die um keinen Deut mehr tut, als erforderlich ist, damit ein Sturm aufkommt oder Windstille eintritt. Die großen Dinge und die großen Dichter sind einsilbig; doch der Leser weiß, dass sie genau nur das sagten, was für die Mitteilung unbedingt erforderlich war. Der große Schriftsteller zwingt den Leser dazu, sein Kompagnon zu sein. »Das Meer«, sagt er. Alles Weitere ist Sache des Meeres und des Lesers.
    ERINNERUNG
    Ich habe noch Frauen geliebt, die nicht lauthals loslachten, wenn ein Mann sich, sagen wir auf einem Waldweg, vor sie hinkniete, ihren Fuß in seine Hände nahm und die Schuhspitze küsste. Ich habe Frauen geliebt, die dann mit Tränen in den Augen empfanden: »Ja, er liebt mich« – nicht aber jene, die wie Experten in solchen Augenblicken mit routinierter Überlegenheit konstatierten: »Aha, ein Schuhfetischist.«

DEZEMBER
    Dieser Monat ist das Fest. Als würden ständig die Glocken geläutet, weit weg, hinter den Schleiern aus Nebel und Schnee.
    In unserer Kindheit haben wir schon am ersten Tag dieses Monats mit blauen und grünen Farbstiften einen Christbaum mit einunddreißig Ästchen auf einen Bogen Papier gezeichnet. Klopfenden Herzens wurde jeder Morgen markiert, gleichsam ein Ast dieses symbolischen Baumes abgeknickt. So näherten wir uns dem Fest. Die Aufregung des Wartens wurde auf diese Art fast ins Unerträgliche gesteigert. Gegen Mitte des Monats, als das Ereignis immer näher rückte, hatte ich abends schon regelmäßig Temperatur und erzählte dem Kindermädchen fiebrig-stotternd von meinen Wünschen. Was ich nicht alles wollte! Eine Dampfeisenbahn und eine Schaffnerzange zum Fahrkartenzwicken, ein richtiges Theater mit Logen, Schauspielerinnen und Rampenlicht, ja sicher auch mit Kritikern und mit den Näherinnen, die bei der Generalprobe dabei sein dürfen und dann schlecht über das Stück reden. Darüber hinaus wünschte ich mir ein polnisches Mäntelchen, sodann Indien, Amerika, Australien und den Mars. All das natürlich in Seidenpapier verpackt und mit Engelshaar geschmückt. Überhaupt wollte ich als Kind immer das Weltall, das Leben, das zugleich Fahrrad, Ausflug in die Tatra, Mutters Klavierspiel im dunklen Salon, Wiener Schnitzel, Apfelstrudel und Triumph über alle meine Feinde war.
    Wenn jetzt das Fest naht, warte ich offenbar immer noch auf etwas, wie ich

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