Márai, Sándor
überlegte.
»Schopenhauer«, sagte ich schließlich, »reiste mit seiner Geliebten und mit einem Empfehlungsschreiben nach Venedig. Den Brief hatte Goethe Schopenhauer mitgegeben; er enthielt Empfehlungszeilen an Byron, den der Philosoph verehrte. Schopenhauer war nämlich Philosoph. Dem Dichter sind sie eine ganze Weile nicht über den Weg gelaufen. Endlich galoppierte er auf dem Lido hoch zu Ross an ihnen vorbei, berühmt, elegant und leidenschaftlich. ›Ecco‹, rief die Frau aufgeregt, ›il poeta inglese!‹ Da verfiel Schopenhauer ins Grübeln, zerriss die an Byron gerichteten Zeilen Goethes und lernte den Dichter niemals kennen.
»Ja«, sagte er.
Ich nahm ihn am Arm, und wir gingen still zurück in den Zuschauerraum.
HOLZSCHNITT
Das Bild der Welt entschwindet plötzlich, und zurück bleibt ein Holzschnitt, der die Ansicht der Provinzstadt wiedergibt, in der ich gern gelebt hätte: einer Stadt mit festen Mauern, der Stadt mit geschnitzter Galerie aus polierter Eiche, mit Bibliothek, einem Henker in rotem Talar, mit spindeldürren geistlichen Herren und fetten Dirnen im städtischen Freudenhaus, Einweckgläsern auf dem Dielenschrank,einem jungen Mädchen, das Bücher von Károly Lovik* liest, mit Frühmessen, die nach Maiglöckchen duften, sowie durchreisenden Buchvertretern, die bei den radikaleren Bürgern Giraudoux und Huxley feilbieten, mit einer Art Flaschenwein, den man in den ungarischen Übersetzungen der Anatol-France-Romane unter der unverständlichen Bezeichnung »Trester-Wein« führt, mit frechen Choristinnen, die sich ein Verhältnis mit dem Kirchendiener anfangen, einem alternden Heraldiker, dessen Welt die Schlachtfelder und abgeschlagene Türkenhäupter sind, mit Backfischen in Schnürstiefelchen, die in Vierergruppen vom Eislaufplatz kommen, wo der Geräte- und Aufwärmraum wie ein Raubkatzengehege stinkt, mit einem netten Vizegespan*, der Proust und Ferenc Herczeg* liest, mit pfeifenden Zügen, Winkelschreibern, pensionierten Obersten und irgendwo am Festungswall dem einen oder anderen abhanden gekommenen Immanuel Kant, der stumm, die Sterne über sich, das Sittengesetz im Herzen und Tolnais Weltjournal in der Tasche, unter den Festungsmauern seine Kreise zieht. Da hätte ich gern gelebt.
ANSICHTSKARTEN
Gar nicht wahr, dass Saint-Malo so unvergesslich schön und Pistoia so schmerzlich-süß und stimmungsvoll, Chartres so aufregend dunkelblau und Bergen so traumartig grau und regnerisch ist, dass man sich ewig nach ihnen sehnt, weil dort das große Erlebnis oder das Glück gewesen ist. Alles zusammen war so schön, dass ich von der Erinnerung daran nicht loskommen kann, dass ich mich voller Unruhe und Sehnsucht zurücksehne in das Ganze, in jede seiner Ecken. Es war eine herrliche Reise. Eine Gesellschaftsreise; die ganze Menschheit nahm teil daran. Jede Landschaft und jede Stadt hat dasselbe gebracht, strahlt dieselbe Erinnerung aus. Was bedeutet diese Erinnerung? Die Jugend.
DIE LERCHE
Mein Freund lag schon im Sterben; aber in seinen klareren Momenten haben wir noch immer über Frauen geredet. Offensichtlich dauert das bis zum Tod an. Er stöhnte und sagte dann:
»Sie war schon drei Monate meine Freundin. War lieb, bezaubernd. Nur merkte ich, dass sie niemals Gegenstände aus Metall anfasste. Immer wenn wir aus dem Zimmer gingen, flehte sie, ich möchte die Klinke niederdrücken. Einmal habe ich sie nach der Ursache dieser Scheu gefragt.
›Ach nichts‹, sagte sie, ›das ist mir einfach geblieben.‹
›Geblieben wovon?‹, fragte ich.
›Von der Klinik‹, erzählte sie ungezwungen. ›Ich war zwei Jahre in der Moravcsik-Klinik*. Man hat mich dort so gern gehabt‹, sagte sie voll Begeisterung und glücklich im Bann dieser Erinnerung. ›Alle haben mich verwöhnt. Nannten mich Fräulein Lerche! Ich war die Lerche der Klinik‹, gestand sie bescheiden.«
DER KOMPLEX
Ein Frauenzimmer sagte über ihn:
»Dieser Mann hat in jeder Frau nur seine Mutter gesucht. In Adele hat er dann gleich seine Großmutter gefunden, der Glückspilz!«
EINE BITTE
Erwarte von mir nicht Demut; ich bin kein demütiger Mensch. Bin souverän und aufmerksam, untreu und neugierig, sensibel und grausam, nach Liebe sehne ich mich nur bedingt, wenn damit keine Bedingungen verknüpft sind. Die Idylle suche dir anderswo, meine Liebe. Mir fehlt die Zeit dazu: Meine Aufgabe besteht lediglich darin, dass ich sie – auf meine Art – erlebe und – auf meine Art – zu Papier bringe.
ENTFERNUNG
Ach diese
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