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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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weibliche Zeugen, ja sogar Familienmitglieder; der Prozess wird immer komplizierter, manchmal hört man jahrelang nichts, die Akten verstauben bei der Behörde; dann wird man unerwartet vorgeführt, und es kommt zum Urteilsspruch, bisweilen ganz ohne Worte; und dann sackst du zusammen, wirst ohnmächtig oder stirbst … Das ist der Prozess. Es dauert einige Zeit, bis man ihn versteht. Aber eines Tages wird man ihn verstehen. Und dann ist der Prozess auch schon zu Ende.
    MINUS
    Solange wir leben, sind wir um einen Punkt weniger wert. Denn wir haben etwas Unvollkommenes, etwas Flüchtiges und auch irgendwie nicht ernst zu Nehmendes in uns. Offenbar, weil wir Menschen sind. Das macht dieses Minus in uns aus. Doch sobald wir gestorben sind, werden wir um ein paar Punkte wertvoller, sogleich stellt sich heraus, dass wir etwas Hehres, etwas Einmaliges und Unersetzliches hatten. Offenbar, weil wir Menschen waren.
    DER LESER
    Er sagt: »Ich schätze Ihre Werke sehr. Aber, ehrlich gesagt, und bitte nehmen Sie es mir nicht übel, Ihre älteren Sachen gefielen mir besser. Zum Beispiel Ihre Pariser Briefe. Warum geben Sie Ihre Pariser Arbeiten nicht in einem Sammelband heraus?«
    »Weil sie nichts taugen«, sage ich.
    »Aber nicht doch«, sagt er.
    Schaut mich zweifelnd an. Erklären kann ich es ihm nicht; niemals würde er verstehen, dass sein Lob viel grausamer und beleidigender ist als seine Vorbehalte. Und sonst ein so netter Kerl. Der beste Gatte, Bruder und Familienvater.
    Aber nicht unbedingt der beste Leser.
    DER BAUMEISTER
    Wir saßen bei Kerzenlicht, hinter uns standen die Diener, und wir speisten irgendwelche schrecklich vornehmen Sachen, mit Kaviar gefüllten Lachs oder so etwas. Dann sagte die eine Dame:
    »Am Ende muss man sich immer mit seinem Baumeister streiten.«
    Mehrere Anwesende nickten mit vollem Mund, zustimmend und verstimmt. Ich nickte auch, empört! Oh, diese Baumeister, dachte ich. Natürlich, am Ende muss man sich immer mit seinem Baumeister streiten.
    Dann dachte ich daran, dass man nie so recht weiß, woran man ist mit den Reichen. Eine exotische Welt! Unsereiner kann sich bestensfalls mit seinem Fußpfleger streiten. Deshalb seufzte ich, teilnahmsvoll, zündete mir eine Zigarette an und schob den Teller mit dem Lachs weg, als empfände auch ich diesen Widersinn der Welt ganz und gar und könnte keineswegs die Stimme ernsthaft zum Protest erheben, wenn ich mitansehen müsste, wie die Reichen ihre nachlässigen Baumeister nach Sibirien schicken.
    MODELLE
    Ich habe festgestellt, dass es für die modischen modernen Maler leichter ist, den Papst, Lord Londonderry*, Kaiser Wilhelm und die Königinmutter von Holland zu porträtieren als ein Pferd zu malen, allein auf weiter Flur, oder einen Strauß Dahlien. Im Pferd oder in einer Dahlie regt sich irgendeine Art Widerstreben, der einem Lord Londonderry als Modell völlig abgeht.
    HAUPTMANNS HELDEN
    Ein großer Schriftsteller. Seine Helden sind stets zu Heldentaten und zum Sterben bereit. Doch mag ich Helden nicht, die im Dialekt sterben.
    Es gibt eine Art literarischer Provinzialität, die begrenzt und lokal eingeengt ist. Die Helden Homers zum Beispiel waren in diesem Sinne alles andere als provinziell; sie lebten und starben für eine ganze Welt. Aber Florian Geyers Verhängnis bleibt die Privatangelegenheit von dreißigtausend Bauern, dreißigtausend Zuschauern, einigen zornigen Rittern und ein paar wütenden Kritikern.
    FEHLERPUNKT
    Ich habe, ganz gegen meine Gewohnheit, mit diesem Menschen ein langes Gespräch über mein in Arbeit befindliches Buch geführt; verriet ihm etwas über den Inhalt, skizzierte die Details und sah mit Freude, dass er meiner Schilderung bewegt folgte, interessiert und ungeduldig dem Erscheinen des Werks entgegensieht. Dann schüttelten wir uns die Hände und trennten uns. Anderntags zu Mittag erfuhr ich, dass er sich am Vormittag um zehn, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, erschossen hat. Seine Tat überraschte mich. Ich empfand seinen Freitod als tragisch, aber zugleich auch als einen Akt der Unhöflichkeit. Diese Empfindung ist barbarisch und ehrlich. Es gibt keinen Autor auf der Welt, der sich damit abfinden würde, dass sein Werk einen Menschen oder die Menschheit nicht von Ruin und Tod abhalten konnte.
    STIMMEN DER TOTEN
    Vaters Stimme höre ich oft. Er steht dann meist in der Tür der verglasten Diele unseres Kaschauer Hauses, im schwarz schillernden Schlafrock, mir, dem Ankommenden und Heimkehrenden, die Hand

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