Marais-Fieber
Richtung ging und mir den
Rücken zukehrte, wußte ich immer noch nicht, wie sein Gesicht aussah. Er ging
wieder recht flott, aber weder schneller noch langsamer als vorher. Ich zögerte
ein paar Sekunden. Vielleicht war das der Anrufer, vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht kam er gerade von Cabirol, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht
konnte ich ihn laufenlassen, vielleicht sollte ich ihm folgen. Kein Gesetz
untersagte mir, ihm zu folgen. Und dann, selbst wenn... Ich folgte ihm.
Er ging in Richtung Rue
Rambuteau, bog dann in die Rue des Archives ein. Vorbei an der Fontaine des
Haudriettes, dann in die Rue Pastourelle. Die Bürgersteige hier sind
halsbrecherisch und außerdem noch schmal und voller Menschen, so daß man
ständig auf die Straße ausweichen muß. Als mein Mann zur Rue du Temple kam,
genau in der Höhe der Schaufenster des Scherzartikelladens Omnium du Rire, fing es plötzlich wieder an zu gießen.
Für mich war das ein übler
Scherz. Solch ein Sauwetter! Ich hatte auf die Schaufensterbeleuchtung gehofft,
um zu sehen, wie das Gesicht aussah, das der Kerl mit sich herumschleppte. Das
konnte ich also in den Mond schreiben, den ich auch nicht zu sehen bekam. Um
sich gegen den Platzregen zu schützen, hatte der junge Mann seinen Mantelkragen
bis zu den Ohren hochgeschlagen und die Hutkrempe bis auf die Nase
runtergebogen. Kein Haarbreit war zu sehen. Der Hampelmann im Ladenschild
zwinkerte mir von oben elektrisch zu. Machte sich wohl über mein Pech lustig,
lachte sich krumm und schief mit seinem Buckel.
Zwischen zwei langsameren Autos
überquerte mein Mann die Straße, nahm die Rue des Gravilliers und bog dann in die
Rue des Vertus ein. Als er an dem Café an der Ecke vorbeikam, riskierte er
einen verstohlenen Blick durch das Gitter mit dem vergoldeten Löwen, ging aber
weiter.
So langsam hatte ich die Nase
voll von unserem Fußmarsch. Die Gangart war etwas zu schnell für mich.
Schließlich hatte ich einen K.o. hinter mir. In der Rue des Vertus beschloß
ich, durch einen kleinen Zwischenspurt näher an ihn ranzukommen.
Zwei Blagen hinderten mich
jedoch daran. Sie fielen laut kreischend aus einer Weinhandlung, die so hell erleuchtet
war wie eine Maulwurfshöhle, rollten mitten durch den Straßendreck und
prügelten sich. Ihre ganze Sippschaft stürzte hinter ihnen her und wollte sie
trennen. Kein Durchkommen. Ergebnis dieser Treibjagd: Der Mann, den ich
verfolgt hatte, war verschwunden.
Ich stand mitten auf der Straße
im Regen. Köpfchen im Wasser...das konnte man wohl sagen! Versuchte, mich ins
Unvermeidliche zu schicken. Die Rolle, die ich diesem Mann zuschrieb, konnte
genausogut ein Hirngespinst sein. Sich so von seinem Riecher leiten zu lassen,
ist ja ganz schön; aber man kann’s auch übertreiben... Am besten sollte ich
nach Hause gehen...
In diesem Augenblick trug die
sanfte, aber nicht gerade wohlduftende Brise eine ausgelassene java an
mein Ohr, gespielt auf einem Akkordeon. Sofort folgte ich wieder meinem
Nasenradar. Mühelos ortete ich diese volkstümlichen Klänge. Sie kamen aus der
Rue Au Maire. Also ging ich dorthin. In der Rue Volta, gegenüber einem der
ältesten Häuser von Paris, erhob sich die moderne Fassade eines bal-musette mit seinen rautenförmigen Fenstern. Chez
Amédée. Le valet de carreau . Das Akkordeon streckte und
reckte sich, die java wirbelte durch den Raum und auf die Straße hinaus
durch die Flügeltür, die vom letzten Gast noch hin- und herschwang. Ich war
nicht so blöd zu glauben, dieser letzte Gast könnte ausgerechnet mein Mann
gewesen sein. Trotzdem ging ich hinein. Auf jeden Fall hatte ich eine
Erfrischung nötig.
Die Tanzfläche war nur spärlich
beleuchtet. Auf der blumengeschmückten Bühne warteten das Schlagzeug und zwei
oder drei weitere Instrumente in ihrer Schutzhülle auf die Musiker. Noch war es
nicht soweit. Aber in dem Bistro hinten an der Theke stand einer von diesen
Musikautomaten, an dem sich die Musikbegeisterten austoben konnten. Von dort
kam die java.
Ruhig beobachtete der patron zwei Gäste beim 421. Als ich eintrat, warfen mir die drei einen flüchtigen
Blick zu. Dann konzentrierten sie sich wieder auf ihre Würfel. Ich hätte schon
die Wände hochgehen oder Öl schlucken müssen, um ihre Aufmerksamkeit zu
erregen. Also strafte ich sie mit derselben Gleichgültigkeit. Ein
aufgedonnertes Dienstmädchen trank in kleinen Schlucken ihren Aperitif, während
sie mit dem Fuß den Takt klopfte. Hinter der Theke spülte eine
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