Marais-Fieber
hierbei um das Jagd-Tagebuch des Königs handelt.
Überliefert ist damit lediglich, daß der glücklose Monarch an jenem Tag kein
Wild erlegt hatte. Maurice Badoux, der eifrige Student, der immer wieder ganze
Nachmittage im Hôtel de Soubise verbracht hat, wird kaum sehr viel Zeit
aufgewendet haben, um im ersten Stockwerk die eindrucksvollen Schriftstücke
unter die Lupe zu nehmen, die ganze Epochen französischer Geschichte
aktenkundig machen. Da läßt sich ein Dokument aus dem 7. Jahrhundert nachlesen,
auf dem der legendäre König Dagobert die Teilung seines Landes ratifiziert,
sofern man denn über ausreichende Kenntnisse in Populärlatein verfügt. Auch ein
Brief der Jeanne dArc an die Einwohner der Stadt Reims ist erhalten sowie das
Testament von Ludwig XIV. und von Napoleon.
Maurice Badoux freilich wollte
sich mit der Lektüre von derlei historischem Schriftgut nicht zufriedengeben.
Den diskreten Schatzsucher trieb es zu den Geheimnissen des Hôtel Barbette.
Nestor Burma notierte im Zuge seiner Ermittlungen: „Ecke Rue Vieille-du-Temple
stand der Turm Wache. Ein neues graues Dach schützte die Ruine, die vielleicht
restauriert werden sollte.“
Vielleicht. Heute jedenfalls
ist vom stolzen Stadtpalais der Königin Isabeau von Bayern nichts mehr
geblieben. Ein häßliches Loch gähnt dort Leere und verunstaltet den
historischen Stadtwinkel wie ein herausgebrochener Eckzahn ein ebenmäßiges
Gebiß. Demnächst, so verspricht eine Holztafel zukunftsfroh, sollen hier — wie
anders auch? — neue Eigentumswohnungen entstehen.
Die Studierstube des
unglückseligen Maurice, in der Rue du Temple, das Büro des raffgierigen Jules
Cabirol in der Rue des Francs-Bourgeois und das bescheidene Zuhause des
beklagenswerten Charles Sébastien, der an den Flammen, die die Leiche Jacquiers
verschlangen, verrückt geworden ist — all diese tristen Heimstätten von Lug und
Trug, von enttäuschten Illusionen, von Wahnvorstellungen und schließlich auch
von Mord, sie mögen sich hinter den grauen Wänden verbergen, die (vorerst)
keiner renovieren will.
Ein letzter Abstecher führt zum
Boulevard des Filles-du-Calvaire. Ein mit verspielten Ornamenten verzierter
Rundbau beherbergt den Cirque d’Hiver, den Winterzirkus, in dem die
Trapezkünstlerin Miss Pearl ein so tragisches Ende fand.
Die großen Zeiten der Manege
sind vorüber. Der Cirque d’Hiver öffnet seine Türen nur noch zu sporadischen
Gastspielen. Die kleine Bar Le Clown mit ihren Keramik-Malereien aus der Zeit der Belle Epoque liegt gleich neben
dem Foyer des Artistes in
der Rue Amelot. Dieses urgemütliche Bistro war viele Jahre lang der Treffpunkt
der Zirkusleute von nebenan.
Stolz hat der Patron, der
Italiener Emilio, all die Erinnerungsfotos mit den Widmungen an die Wand
geheftet. Auch Schauspieler waren dort Stammgäste. Der berühmte Jean Gabin zum
Beispiel. Emilio, so erzählt mir sein Nachfolger, ein Franzose, hat vor ein
paar Monaten eine Brasserie im 8. Arrondissement übernommen. Er wollte das
Quartier wechseln, als auch die Kundschaft wechselte. Tatsächlich: Von den
Gästen an den Nebentischen sieht keiner so aus, als könne er Tiger durch einen
Reifen springen lassen. Auch so einer wie der muskelbepackte Mario ist nicht
auszumachen. Keiner mit gezwirbeltem Schnurrbart, der unter dem Ringelhemd die
Bizeps spielen läßt, und als die Tür aufgeht, betritt nicht etwa Antonio, der
Zauberer, die Kneipe, mit wallendem Überwurf und schwarzem Zylinder, der, kaum
gelüftet, ein Dutzend Kaninchen oder Tauben freigibt, sondern ein biederer
Möbelpacker-Typ in blauer Latzhose, der an der Theke ein Bier trinkt.
Der Alte da drüben, der zum
Nachtisch einen Karamell-Pudding bestellt hat und seit der Vorspeise schon
tonlos vor sich hinbrabbelt, der sieht am ehesten noch so aus, wie man sich
einen alternden Clown vorstellt, wenn er abgeschminkt ist.
Wissen Sie, sagt der
Emilio-Nachfolger, als er abkassiert, das muß mal eine tolle Stimmung hier
gewesen sein. Aber in diesem Viertel von Paris hat sich in den letzten Jahren
besonders viel verändert. Ja, sage ich, den Eindruck habe ich auch.
Peter Stephan
im September 1985
Anmerkungen des
Übersetzers
Seite
12 : Die
Verpackungskünstler von Borniol: Bekanntes Beerdigungsinstitut in Paris.
Seite 13 : Hundert Scheine...
schmierige Tausender: Es handelt sich bei allen Geldbeträgen, von denen im
Laufe des Romans die Rede ist, um „alte Francs“.
Seite 20 : Bal-musette: Volkstümliches
Tanzvergnügen, bei
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