Marathon
›weitermachen‹?«, fragte sie
ruhig.
»So weiterleben,
wie du lebst. Du kannst die Wohnung behalten, kannst noch
ungestörter deiner Arbeit und deinen Freizeitaktivitäten
nachgehen. Machst halt denselben Scheiß, den du jeden Tag
machst. Nur ohne mich.«
»Du machst auch
jeden Tag denselben Scheiß.«
»Nicht
mehr.«
Sie legte das Besteck
beiseite und versuchte, ihm tief in die Augen zu sehen. Er
ließ sich nicht beirren, genoss die Wachteln, trank sein
Bier.
»Was heißt
das? Warum muss ich dir alles aus der Nase ziehen?« Sie wurde
lauter. »Du willst dich trennen, hast aber keinen Grund,
sagst nicht, wohin du gehen willst, redest verqueres Zeug daher,
meinst, ich mache jeden Tag denselben Scheiß
…«
»Ich will mich
nicht mehr anstrengen. Ich bin fertig damit, jeden Tag so enden zu
lassen wie den letzten, ohne den Gewohnheiten entkommen zu
könnnen.«
»Klug
dahergeredet, mein Lieber.« Sie griff zum Messer und schlug
gegen ihr Glas, wie jemand, der eine Rede anzukündigen hatte.
»Meine Damen und Herren«, rief sie in die verdutzten
Gesichter der anderen Gäste. »Mein Mann, dieser Mann,
ist endlich weise geworden. Er kann uns die Welt erklären. Er
kann Ihnen, meine Damen und Herren, erklären, warum Sie jeden
Tag aufstehen, um denselben Scheiß zu machen, und warum er
das jetzt nicht mehr tut. Er will sich nicht mehr anstrengen.
Applaus, Applaus.«
Mit dieser Reaktion
hatte er nicht gerechnet. Die kluge, kühle, stets beredte
Karrierefrau verlor zumindest für kurze Zeit die Kontrolle
über sich. Er erlebte zum ersten Mal in ihrer Ehe, dass seine
Frau nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Er freute sich
darüber, dass sie die Aufmerksamkeit des ganzen Lokals auf
sich gezogen hatten. Und um den Genuss perfekt zu machen, aß
er seine letzte Wachtel auf, während sich seine Frau
blamierte. Der Mann, der den Sommelier spielte, stürmte an
ihren Tisch.
»Bitte, Signora,
bitte.« Er zog die betonten Vokale mit dem italienischen Sinn
für Dramatik in die Länge. »Hören Sie.
Beruhigen Sie sich.«
Ein herrliches
Schauspiel. Sie beruhigte sich natürlich auf der Stelle.
Contenance will gelernt sein. Doch diesmal fiel es ihr
augenfällig sehr schwer, die Beherrschung
zurückzugewinnen.
»Entschuldigung«,
sagte sie leise zu dem Kellner. »Bringen Sie uns das
Hauptgericht, bitte.«
»Sehr
wohl«, murmelte der Mann.
Sie strich ihren
Blazer glatt und suchte unsicher ihre Handtasche. Dann stand sie
auf und ging zum Klo. Ingo Gassmann musterte die anderen
Gäste. Die meisten taten so, als wäre nichts geschehen.
Schicke Leute, fein gemacht für einen Abend in mediterranem
Ambiente. Der Besuch eines Spitzenrestaurants ist eine Kunst, die
mancher hier zur Vollendung gebracht hatte. Einerseits galt es,
bewusst das Außergewöhnliche zu genießen,
andererseits musste man dies so tun, als wenn man es durch
tägliche Übung gewohnt sei. So hob man sich ab von der
Masse, die sich einen solchen Abend nicht leisten konnte oder
wollte, und denjenigen, denen man ansah, dass sie für diesen
Abend gespart hatten und sich bei jedem Glas Wein fragten, ob er
denn wirklich diesen unverschämt hohen Preis wert war. Ja,
auch das Geld ausgeben, das Bezahlen war eine Kunst, dieses
lässige Hinschieben der Kreditkarte, nachdem man nur
flüchtig, demonstrativ achtlos einen Blick auf die hohe
Rechnung geworfen hatte. Ein Mittfünfziger, Typ Journalist im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im schwarzen Sakko über
schwarzem T-Shirt mit hübscher, dekorativer Begleitung war
hier heute Abend ohne Frage der größte Künstler: Er
bestellte die Crème brûlée und die Portion
Zabaione für seine Begleiterin in der Sprache der Gastgeber.
Der Mann, der den Sommelier spielte, tat, als fände er das
ganz wunderbar.
Ihr Idioten, dachte
Gassmann. Ihr zelebriert den Traum der ewigen Jugend, angetrieben
vom Wahn, immer jung und in Bewegung zu bleiben, und gepeinigt von
dem Zwang, das bloß niemanden merken zu lassen. Wisst ihr
nicht, daß ihr mit jeder Stunde, die ihr hier sitzt, eine
weitere eures beschissenen kleinen Lebens verliert? Was sagt ihr,
wenn man euch eines Tages fragt, was ihr mit den Stunden angefangen
habt? Ihr habt eure neue Freundin vorgestellt, über
Altersvorsorge, eure Scheidung und Autos diskutiert, über
Politik und Fußball geschimpft und so getan, als wenn es noch
mehr im Leben geben müsste, um auf diese Weise Mitleid von
Leuten zu gewinnen, die auch nur jemanden suchen, um sich mal
richtig auskotzen zu können.
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